Projekte, Bauteilaktivierung
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Bauteilaktivierung über Betondecken: Die innovative Heiz- und Kühltechnologie

Mit dem vor einiger Zeit eröffneten Liselotte-Hansen-Schmidt-Campus gelang der Stadt Wien ein zukunftsweisendes Projekt – in ökologischer wie auch in sozialer Nachhaltigkeit punktet der Bau und legt die Latte für den Schulbau hoch.

Bauteilaktivierung über Betondecken: Die innovative Heiz- und Kühltechnologie
Sebastian Spaun, Geschäftsführer der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie über die Vorteile der Bauteilaktivierung.
Sebastian Spaun, Geschäftsführer der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie über die Vorteile der Bauteilaktivierung.

Stellen Sie sich einen warmen Spätsommertag vor. Kleinere Kinder sausen durch den Garten – Park wäre übrigens eher passender als Beschreibung, denn die Freiflächen beim Liselotte-Hansen-Schmidt-Campus sind riesig. Die offene Gestaltung des Areals lässt die Grenzen zwischen Schule und öffentlichem Raum verschwimmen – das ist auch beabsichtigt. Denn der für alle Altersklassen gestaltete Freibereich darf zum grössten Teil von allen genützt werden, also auch von Anrainern oder Besuchern der Seestadt. «Mit der gezielten Öffnung bestimmter Bereiche für die Allgemeinheit kann zu jeder Tageszeit soziales Leben stattfinden. Der so entstandene weiche Übergang zum öffentlichen Raum lässt den Bildungscampus zu einem lebendigen Areal für alle Altersstufen werden», erläutert Architekt Christoph Karl mit Stolz bei einem Rundgang durch den soeben eröffneten Schulcampus. Noch ist es recht ruhig am Gelände des neuesten Schulkomplexes im Norden der Seestadt Aspern im Quartier «Am Seebogen». Die Älteren sitzen bereits in ihrer – angenehm temperierten – Klasse und blicken vermutlich sehnsüchtig nach draussen. Der Campus wurde für zwischen vier- bis 12-jährige Kinder konzipiert, gleich daneben gibt es ein laut Seestadt Aspern bereits stark frequentiertes Jugendzentrum.

Trotz des warmen Tages ist es im Gebäude angenehm kühl, wohl temperiert. Dies ermöglicht der Energiemix, der hier nach dem Konzept von Harald Kuster umgesetzt wurde: Passivhaus-Gebäudehülle, Wärmepumpen, über 70 Erdwärmesonden, Solarstrom und eine Lüftung mit hocheffizienter Wärmerückgewinnung. Mittels Geothermie in Verbindung mit thermischer Bauteilaktivierung der Zwischendecken kann das Gebäude kostengünstig und effizient geheizt und gekühlt werden. Gekühlt und geheizt wird von der Decke – und das war zugleich auch die planerische Herausforderung, wie Christoph Karl schmunzelnd zugibt: „Es ging um die Akustik, deshalb benötigten wir abgehängte Decken – ein bis dato No-Go im Zusammenhang mit der Bauteilaktivierung. Doch wir schafften es.“ Architekt Karl outet sich als erfahrener Bauteilaktivierungsfan: «Wir kennen das System bereits aus mehreren Projekten – es ist einfach das energieeffizienteste, das es gibt.»

CO2-frei kühlen

Pflanzen an der Fassade unterstützen das Rund-um-die-Uhr-Wohlfühlklima. Die Wärmebereitstellung erfolgt durch die Wärmepumpe, die mit Sonnenenergie vom Gebäudedach gespeist wird. Die Erde unter dem Gebäude dient als Energiequelle für die Heizung im Winter. Im Sommer kann das Gebäude mittels freier Kühlung nahezu kostenlos und ohne CO2-Emissionen hocheffizient gekühlt werden. Dabei wird die überschüssige Gebäudewärme einfach in das Erdreich abgeführt. Durch die thermische Aktivierung der schweren Gebäudemassen wird der gesamte Bildungscampus zum Wärmespeicher. Dank der hochisolierten und luftdichten Hülle und der hohen Speichermasse kann das Gebäude seine Temperatur konstant halten, auch wenn über mehrere Tage keine erneuerbare Aufbringung möglich ist (z.B. Photovoltaik im Winter). Dadurch kann das Gebäude optimal mit volatiler erneuerbarer Energie versorgt werden. Aufgrund der hohen Energieversorgung vor Ort entstehen für das Gebäude sehr niedrige Energiekosten. Der Bildungscampus ist damit energietechnisch weitgehend autark und setzt ausschliesslich auf erneuerbare Energiequellen. Auffällig beim Rundgang der bereits voll in Betrieb genommenen Schule ist trotz der warmen Aussentemperaturen auch der neutrale Geruch, den aus der eigenen Schulzeit vertrauten Mief gibt es hier nicht. Es ist hell, freundlich – gemütlich.

Quelle: Magazin Zement & Beton Österreich
Quelle: Magazin Zement & Beton Österreich
2sp Bilder: bauteilaktivierung schulen

Klimaneutral bis 2040

Wien hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2040 klimaneutral zu werden. Ein zentraler Baustein dafür ist der Ausstieg aus fossiler Energie hin zu erneuerbaren Energien. Den Bildungseinrichtungen kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Im Regierungsprogramm wurde vereinbart, bei Neubauten und Sanierungen die Herausforderungen der Klimakrise und der Hitze im Sommer zu berücksichtigen. Ein Leuchtturmprojekt dafür ist der Bildungscampus Liselotte Hansen-Schmidt in der Seestadt. Auch Wiens Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky zeigt sich begeistert von dem «coolen» Bildungscampus: «Der Bildungscampus ist ein herausragendes Beispiel, wie mit innovativen Konzepten Klimaschutz und Klimaanpassung Hand in Hand gehen. Sauberer Strom und saubere Wärme und Kälte schützen nicht nur das Klima, sondern sorgen auch für ein angenehmes Raumklima. Kluge Energielösungen wie hier in der Seestadt zeigen, dass wir längst über das nötige Wissen und die Mittel verfügen, um die Energiewende voranzutreiben.»

Der Campus liegt direkt am Elinor-Ostrom-Park im Westen und grenzt im Osten an die ringförmige Sonnenallee. Das Haus ist ringsum von Grünflächen und von vertikalem Grün mit Rankpflanzen an der Fassade umgeben. Besonders sind auch die ringförmigen Terrassen, die einen Rückzug erlauben. Getreu dem Campuskonzept können hier alle Altersklassen miteinander spielen, es gibt einen Kindergarten, eine Volksschule, eine Mittelschule sowie sonderpädagogische Einrichtungen. Bis zu 1.100 Kinder und Jugendliche können ganztägig betreut werden. Gleich neben dem Campus gibt es ein Jugendzentrum mit Café und einen Veranstaltungsraum sowie zahlreiche Sportflächen. Das klingt alles nach Luxusschule. «Nein, ganz und gar nicht», lacht Carl Thümecke von Vasko+Partner, der als PPP-Berater und -abwickler natürlich auch streng auf die Kosten achtete. Der Bildungscampus wurde als Public-Private-Partnership-Projekt errichtet – das Zusammenspiel klappte hervorragend: «Unser Fokus als PPPBerater war, die Qualität und Wirtschaftlichkeit des Projekts in Einklang zu bringen, bei einem der grössten Stadtentwicklungsgebiete Europas eine spannende Herausforderung. Ein solches Projekt ist nur durch beste Zusammenarbeit mit allen Projektbeteiligten möglich», bestätigt Monika Anwander von Vasko+Partner.

Flexible Möblierung

Das Gebäude ist in drei Teile gegliedert und wurde vollständig aus Beton errichtet. In der Mitte befinden sich der Eingang, die Stiegen und gemeinschaftlich genutzte Räume, in den beiden anderen Gebäudeteilen befinden sich die Klassen und Lernräume. Neben den Grünbereichen gibt es in allen Geschossen begehbare Terrassen. Aussenliegende Treppen führen aus allen Geschossen in den Garten. Zwei Kindergartengruppen und vier Schulklassen werden dabei jeweils auf einer Ebene in eigenen Bildungsbereichen zusammengefasst. «Die Gestaltung der Bildungsbereiche (=BiBer) entspricht den neuesten Erkenntnissen moderner Pädagogik. Mehrere Bildungsräume gruppieren sich um eine gemeinsame Multifunktionsfläche, eine Art «Wohnzimmer» für Schüler und Lehrer. Hier kann man sich für gemeinsame Projekte versammeln, die Pause verbringen oder in einer der Rückzugsnischen Ruhe suchen», erläutert Ute Schaller von der Baudirektion der Stadt Wien. An jede Multifunktionsfläche schliessen rundum Balkone und Terrassen an, welche Platz für Unterricht im Freien bieten. Mittels flexibler Möblierung sind die Räumlichkeiten rasch veränderbar und an die unterschiedlichen Unterrichtsmethoden anpassbar.

Schwammstadt-Pilotprojekt

Im zentralen Quartier «Am Seebogen» gelegen ist der Bildungscampus gut erreichbar und mitten in urbanen Parks und Plätzen. Der durch einen Gebäuderücksprung gut markierte Vorplatz orientiert sich zur Haupterschliessungsstrasse der Seestadt, der Sonnenallee. Auch auf der Gartenseite «verzahnt» sich das Gebäude durch ein Versetzen der Bauteile mit einem quartiersübergreifenden Naturraum-Korridor. Ein aktuelles Projekt der Stadt Wien/Energieplanung arbeitet deshalb an Empfehlungen, die dabei helfen sollen, eine Sommertauglichkeit zu gewährleisten, ohne sich dabei stromintensiver Klimageräte zu bedienen, die ihrerseits zu einer weiteren Erwärmung der Umgebung beitragen. Das Projekt soll demnächst abgeschlossen sein und beinhaltet Handlungsempfehlungen in den Bereichen Organisation, Lüften, Verschattung, Begrünung und aktive Kühlung. «Die Klimakrise stellt uns vor die Herausforderung, unsere Gebäude an neue Bedingungen anzupassen. Die Handlungsempfehlungen unserer Experten der Energieplanung sollen dabei helfen, Massnahmen zur Abkühlung der Bildungseinrichtungen zu entwickeln», so Klimastadtrat Czernohorszky.

Gleich direkt vor der Schule wurden an die 10.000 Quadratmeter Strassenoberfläche aus Betonsteinen errichtet. Getestet wird hier das sogenannte Schwammstadtprinzip. Das bedeutet, dass das Regenwasser nicht einfach stehen bleibt oder unkontrolliert abrinnt, sondern versickert und so dem Boden, den Bäumen und Pflanzen zur notwendigen Feuchtigkeit verhilft. Das Regenwasser wird gespeichert und zurückgehalten und steht den Bäumen länger zur Verfügung. Gleichzeitig werden Überflutungen bei Starkregenereignissen abgeschwächt oder verhindert. «Dazu wird unterhalb der befestigten Oberflächen im Strassenraum eine Schicht aus grobkörnigem Schotter sowie feineren, wasserspeichernden Materialien angelegt. Die Bäume stehen wie üblich in ihren Baumscheiben, haben aber direkten Kontakt zu den Schotter- Schichten und können diese durchwurzeln», erklärt Ute Schaller bei dem Besuch vor Ort. Das Regenwasser kann über ein Filtersystem in die Schotterschicht ablaufen und steht den Bäumen somit in ausreichender Menge und über einen entsprechend längeren Zeitraum zur Verfügung.

Eine Besonderheit – und darüber freuen sich die Bewohner der Seestadt Aspern – ist, neben den nachhaltigen, innovativen Konzepten, dass die Stadt Wien sich bereit zeigte, die Bildungscampusfreiflächen nun auch für die Öffentlichkeit rund um die Uhr zur Verfügung zu stellen. Für Wiens Stadtbaudirektor Bernhard Jarolim selbstverständlich: «Das soziale Lernen ist das Wichtigste für junge Menschen – ich freue mich, dass wir das nun unterstützen können.» Neben dem Campusareal darf übrigens selbst unter der U-Bahn- Trasse gespielt werden – Freiräume für alle und das zum Nulltarif. Im Norden der Seestadt entsteht ein Stadtteil, der den Bewohnern und Nutzern mit Sicherheit ebenso guttut wie dem Klima.

Hinweis: Der Text stammt aus der Publikation Zement & Beton und wurde uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

Liselotte-Hansen-Schmidt-Campus
(für 1100 Kinder)

  • Kindergarten
  • Volksschule
  • Mittelschule
  • Sonderpädagogische Einrichtungen
  • Jugendzentrum mit Veranstaltungsraum
  • Freiflächen: Gärten, Vorgärten und grosszügige Dachterrassen
  • Randbereiche: Plätze und Grünflächen mit Spielplätzen
  • Grünräume in der mehrfach genutzten Freifläche stehen Bewohnern auch ausserhalb

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