Kreislaufwirtschaft
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Müllerstrasse Zürich: Wie Kreislaufwirtschaft mit Beton gelingt

Weniger Abriss, mehr Substanz: An der Müllerstrasse 16/20 in Zürich wird ein Bürokomplex aus den 1980er-Jahren zum Vorbild für nachhaltige Transformation. Statt neu zu bauen, nutzt das Projekt die bestehende Betontragstruktur weiter – kombiniert mit innovativen Recyclingmethoden, Materialpässen und einer klaren CO₂-Bilanz. So entsteht ein Vorzeigeprojekt für zirkuläres Bauen mit Beton.

Müllerstrasse Zürich: Wie Kreislaufwirtschaft mit Beton gelingt
Video: Einblicke in die Sanierung - ein Gespräche mit Felix Thies und Michael Bächle
Video: Einblicke in die Sanierung - ein Gespräche mit Felix Thies und Michael Bächle

Das Bürogebäude an der Müllerstrasse 16/20 in Zürich wurde 1981 erstellt und verfügt über eine vermietbare Fläche von rund 16’000 m2. Durch die Nähe zum Stauffacher und die Gehdistanz zum Zürcher Hauptbahnhof ist die Immobilie optimal an den öffentlichen Verkehr angebunden.

Die Liegenschaft wird bis 2024 umfassend saniert. Dazu gehören der vollständige Rückbau bis auf die Beton-Tragstruktur, die Erneuerung der Fassade, des Daches und der gesamten Gebäudetechnik. Das Projekt ist für Swiss Prime Site ein Leuchtturmprojekt in Bezug auf nachhaltiges und zirkuläres Bauen. Nach der Vollendung wird das Gebäude nach SNBS-Standard zertifiziert. Die Transformation der Liegenschaft wird ganz im Sinne der integralen Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft («Circular Economy») durchgeführt. So werden alle Materialien katalogisiert und wenn immer möglich wiederverwertet. Dies spart Transportwege, ist ressourcenschonend und bewahrt die spezifische Identität des Gebäudes in der Stadt und im Quartier. Der Mieter Google wird zusätzlich eine Zertifizierung nach LEED (Leadership in Energy and Environmental Design) für den Mieterausbau durchführen. BETONSUISSE hat das Gebäude genauer betrachtet und den Fokus auf den Baustoff Beton gelegt. Dazu haben wir mit dem Architekten Felix Thies und Michael Bächle, dem Bereichsleiter Umbau des Totalunternehmers gesprochen.

Die Vorteile von Beton bei der Sanierung «Müllerstrasse» optimal genutzt:

  • Dank der Robustheit und Langlebigkeit des Betons konnte die bestehenden Beton-Tragstruktur weitergenutzt werden.
  • Wiederverwertung rezyklierter Gesteinskörnung (aus Brüstung, Trog und beim Durchbruch von Wänden als Zuschlag für neuen Beton, Bodenplatten und einer mineralischen Dämmung), um Primärressourcen zu schonen
  • Wiederverwendung von Brüstungsteilen als Sitzbänke
Impressionen nach der Sanierung.
Impressionen nach der Sanierung.
Galerie tragstruktur wiederverwenden
Bilder: Swiss Prime Site
Bilder: Swiss Prime Site

Was war bei diesem Projekt der ausschlaggebende Punkt, das Gebäude zu sanieren, an Stelle es abzureissen?
Diese Frage wird heutzutage immer wichtiger. Bis vor 5-10 Jahren war es in vielen Fällen klar, dass ein Ersatzneubau günstiger ist und schneller realisiert werden kann als ein Umbau. Ein Umbau ist komplexer in den Abläufen und verlangt von allen Beteiligten zusätzliche Einsatzbereitschaft und Flexibilität. Wir waren bei dem sehr grossen Gebäude an der Müllerstrasse früh im Prozess schon überzeugt, dass der Rohbau genügend Robustheit und auch architektonische Flexibilität bietet, um weiterverwendet werden zu können. Man muss eine intensive Bestandsanalyse durchführen. Dieser Analyseprozess lässt sich kaum standardisieren, da jeder Bau ein Prototyp ist und je nach Baujahr und Nutzungsart wieder über andere Materialien und Bauweisen verfügt. Darum sind viele Sondagen und eine gründliche Analyse im zirkulären Bauen der Schlüssel zum Erfolg.

Wie wurde das Thema CO2 im Projektverlauf behandelt?
Bei der Bauherrin Swiss Prime Site hat der Faktor des CO2-Verbrauches bereits Einfluss auf die grundlegenden Entscheidungen in einem Projekt. Bei diesem Bau haben wir den gesamten Prozess mit dem Tool «Madaster» begleitet. So konnten wir einen Materialpass erstellen und die Volumina der verbauten Materialien abbilden. So konnte dann auch gezeigt werden, was es bedeuten würde, wenn wir den Rohbau abreissen und neu errichten würden. Das Gebäude verfügt über drei Untergeschosse und sieben Obergeschosse mit drei Kernen; das ist ein sehr grosser Rohbau. Es sind zirka 13'000 m3 Beton, die damals verbaut wurden.

Um einen solchen Rohbau neu zu errichten, würden grosse Mengen an CO2 emittiert. Basierend auf aktuellen EPDs entspricht dies ca. 2600 Tonnen CO2, die nicht emittiert werden. Wenn man dieses CO2 wieder echt kompensieren möchte, müsste man es zum Beispiel mit einer Technologie wie der «Direct Air Capture» wieder in den Boden einlagern. Dies würde aber über 2 Millionen CHF kosten und kann die Entscheidung Umbau versus Ersatzneubau dann doch wieder erheblich beeinflussen. Oft wird auch gesagt, man könne ja ein paar Bäume dafür pflanzen. Bei unserem Beispiel müsste man jedoch einen Wald mit 3’900 Bäumen pflanzen und diese dann 80 Jahre wachsen lassen, um die entsprechende Menge CO2 wieder zu binden. Diese Art Zahlenspiele helfen uns, die Bedeutung von Entscheidungen und ihre Auswirkungen auf unser Klima greifbar und konkret zu machen und zeigen, dass dank der Langlebigkeit von Beton grosse Emissionsmengen eingespart werden können.

Felix Thies, Dipl.-Ing. Arch. TH/SIA, Ilmer Thies Architekten AG
Felix Thies, Dipl.-Ing. Arch. TH/SIA, Ilmer Thies Architekten AG

Vier Fragen an Felix Thies, Dipl.-Ing. Arch. TH/SIA, Ilmer Thies Architekten AG

Wie viel Spielraum hat man als Architekt bei einem Bestandsbau?
Aufgrund der technischen Möglichkeiten ist es heutzutage möglich, fast jede erdenkliche Form umzusetzen. Der Kreativität von Architekten sind keine Grenzen gesetzt. Auch hier hätte man ein neues Gebäude anstelle des vorhandenen 80er-Jahre Baus platzieren können. Das führt jedoch dazu, dass vieles beliebig wird und das Werk trotz einer vielleicht spektakulären Form keine Relevanz besitzt. Dort sehen wir beim Bauen im Bestand für die Architektur eine grosse Chance. Man muss dafür die Qualitäten des Vorhandenen genau analysieren und herausarbeiten. Ausserdem muss man sich trauen, die heute nicht mehr brauchbaren Bauteile architektonisch zu verändern und wenn nötig auch stark einzugreifen. Dann hat man die Chance, ein wirklich einzigartiges Resultat aus Alt und Neu zu schaffen. Dies ist nicht nur für unsere Umwelt besser, weil es Ressourcen schont, sondern entwickelt auch den Ort mit seiner Identität weiter und bietet Schutz vor der Belanglosigkeit.

Wie wird Nachhaltigkeit bei diesem Projekt umgesetzt?
Es gibt sie nicht, die eine grosse Lösung oder den einen Ansatz, der ein Projekt auf einmal nachhaltig macht. Nachhaltigkeit besteht aus dem Zusammenspiel vieler Faktoren und genauso ist es auch bei der Müllerstrasse. Wir arbeiten viel mit zirkulären Ideen und geben Materialien noch einmal eine neue Lebenszeit, architektonisches Recycling sozusagen. Hier gibt es viele verschiedene Strategien, die wir einsetzen. Zum Beispiel, indem wir einzelne Materialien wie den Kunststeinboden aus den 80er-Jahren in den Treppenhäusern, im Gebäude zu belassen. Die daran anschliessenden Bauteile werden dann auf die dunkelroten Bodenplatten gestalterisch, farblich und in der Oberfläche angepasst. Das hat bei unserem Gebäude dazu geführt, dass wir 3 mal 10 Geschosse Kunststeinbelag inklusive aller Sockelleisten etc. nicht herausreissen und wegwerfen mussten. Oder wir nehmen Bauteile, die sich schlecht rezyklieren lassen, wie in unserem Fall die grossen Mengen des Gussaluminiums an der Fassade. Wir verwenden diese im Projekt nach einem Zuschnitt erneut als Fassadenmaterial und verkleiden damit auch die Wände und Decken in den Eingangsbereichen– hier dann aber mit geschliffener und polierter Oberfläche. Statt auf einer Deponie zu enden, geben wir dem Material noch einmal einen Lebenszyklus.

Ausserdem arbeiten wir hier auch mit verschiedenen Nachhaltigkeitslabels. Wir haben eine PV-Anlage auf dem Dach, haben sehr gute Dämmwerte an der Gebäudehülle und moderne Haustechnikanlagen. Wir sind an die Fernwärme angeschlossen und haben keine konventionelle Heizung mehr. Die Umgebung wird trotz der Innenstadtlage naturnah gestaltet. Auch verwenden wir ein neues, schaltbares Glas in der Fassade, basierend auf Flüssigkristalltechnologie. Dieses hilft uns zum Beispiel in Übergangszeiten durch eine prozentuale Abdunkelung die Kälteleistung zu reduzieren und es macht auch sämtliche aussenliegende Sonnenschutzsysteme überflüssig. Hierdurch wird nicht nur Material gespart, sondern auch der Aufwand im Unterhalt reduziert. Um ein nachhaltiges Projekt zu realisieren, braucht es immer ein vielschichtiges Vorgehen.

Was war in diesem Projekt in Bezug auf die Zusammenarbeit wichtig?
Ein kaum hoch genug einzuschätzender Faktor ist die Ambition und Einsatzbereitschaft der Bauherrschaft. Swiss Prime Site hat uns im Projektverlauf stets motiviert und gerade bei allen Themen der Kreislaufwirtschaft unterstützt. Wichtig war ausserdem, dass das Team von Anfang an komplett beauftragt war, inklusive Totalunternehmer, Fachplaner und Architekt. Das führt dazu, dass sich die Parteien als Team fühlen und sich stark mit dem Projekt identifizieren. Man spürt, dass sich der grosse Einsatz im Bereich Nachhaltigkeit lohnt und auch tatsächlich umgesetzt wird. Es wird viel verlangt von den Akteuren um die zirkulären Ideen bis in die Realisierung zu begleiten.

Wie ist spezifisch das Material Beton in Bezug auf Rezyklierbarkeit und zirkuläres Bauen einzuordnen?
Beton ist grundsätzlich ein sehr leistungsfähiges und auch ein langlebiges Material. In der Müllerstrasse war die 40 Jahre alte Stahlbetonstruktur in einem guten Zustand und konnte dadurch erhalten werden. Daneben bieten aber Stahlbeton und Baustoffe wie Terrazzo vielfältige andere Möglichkeiten im Bereich der Wiederverwertung. Wir haben zum Beispiel Abbruchbeton zerkleinert an die Firma Eberhard geliefert, die diesen mit der Firma swissporit kalt aufgeschäumt hat. Daraus entstanden sind mineralische Dämmstoffplatten, die wir im Untergeschoss an der Decke einsetzen konnten. Oder wir haben Abbruchmaterial vom Beton als Zuschlagstoffe für neue Kunststeinplatten für die Liftvorzonen und Lobbies verwendet. Teilweise haben wir sogar einzelne Betonabschnitte genommen, zugeschnitten, geschliffen und poliert. Diese werden nun als Sitzbänke im Projekt wieder eingebaut.

 

Vier Fragen an Michael Bächle, Bereichsleiter Umbau, Allco AG

Was bedeutet Nachhaltigkeit heute für einen Totalunternehmer (TU) im Rahmen von Klimawandel, Ressourcenschonung, Zirkularität und Kreislaufwirtschaft?
Das Thema Nachhaltigkeit bedeutet heutzutage für den TU, dass man frühzeitig planen muss, mit welchen Materialien man «ins Rennen» gehen will. Immer mehr Investoren legen Wert darauf, dass man nebst dem monetären auch den CO2-Ausstoss vergleicht und ihn als finanzielle Grösse mitaufrechnet. Das Spektrum an Themen in dieser Hinsicht ist sicher grösser und intensiver geworden.

Weshalb ist es sinnvoll, bestehende Strukturen zu bewahren?
Bestehende Tragstrukturen sollen genutzt werden, um weniger neue Ressourcen einzusetzen. das heisst, graue Energie, welche zur Herstellung solcher Baumaterialien benötigt wird, kann reduziert werden. Beton ist prädestiniert, um über lange Zeit verwendet, wiederverwendet und wiederverwendet zu werden. Nicht jedes Gebäude muss direkt abgerissen werden, sondern die Tragstruktur kann beibehalten und rundum eine Sanierung vollzogen werden.

Also macht es schon hauptsächlich aus ökologischer Sicht Sinn?
Ja, Gebäude werden nachhaltig, wenn man sie über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg betrachtet. Und wenn man langlebig plant und baut, wie beispielsweise hier an der Müllerstrasse, die zu modernen Büroräumlichkeiten umgebaut wird. Man muss bei der Planung bereits überlegen, was das Gebäude zu einem späteren Zeitpunkt für eine Nutzung haben könnte. Man sollte sich bei der Planung also nicht einschränken, sondern offen und flexibel bleiben.

Was bedeutet Zirkularität des Baustoffes Beton?
Um die CO2-Bilanz von Gebäuden in Zukunft signifikant zu verringern, ist es unerlässlich, bereits bestehende Strukturen auf ihre Tauglichkeit für zukünftige Nutzungen zu prüfen und den Lebenszyklus von Gebäudeteilen zu verlängern. Ziel ist nicht konservatorisch Gebäude jeglicher Art in ihrem Zustand zu erhalten, sondern Potenziale zu erkennen und herauszustellen. Gebäudestruktur und die verwendeten Bauweisen und Materialien müssen analysiert und auf ihre direkte Wiederverwendung oder die Rückführung in zirkuläre Kreisläufe geprüft werden. Nur eine gesamthafte Betrachtung und die Entwicklung entsprechender Bewertungsmittel können Auskunft über die tatsächliche Nachhaltigkeit und ökonomische Tragfähigkeit geben.

Durch den geschossübergreifenden Rückbau der Betonbrüstungen, des Betontrogs, der das Gebäude zwischen Erdgeschoss und 1. Obergeschoss umschliesst, sowie einiger Wand- und Deckendurchbrüche, die neu hergestellt werden müssen, fallen grössere Mengen an Stahlbeton an. Diese wurden gefräst und – bis auf einige Bauteile, die direkt wiederverwendet wurden – in grossen Stücken abtransportiert. Anschliessend wurden die Betonstücke gebrochen, sortiert und als Recycling-Granulat als Zuschlagsstoffe vor Ort wieder eingesetzt. Die überschüssigen Mengen, die nicht im Projekt benötigt werden, werden in den Stoffkreislauf anderer Abnehmer überführt.

Michael Bächle, Bereichsleiter Umbau, Allco AG
Michael Bächle, Bereichsleiter Umbau, Allco AG
Impressionen der Sanierung: Die bestehende Betonbrüstung wird vollständig wiederverwendet.
Impressionen der Sanierung: Die bestehende Betonbrüstung wird vollständig wiederverwendet.
Entfernung der bestehenden Brüstung.
Entfernung der bestehenden Brüstung.
Nutzung der geschnittenen Betonelemente beispielsweise als Sitzbank
Nutzung der geschnittenen Betonelemente beispielsweise als Sitzbank

Zahlen und Fakten

Bauherrschaft:
Swiss Prime Site

Nutzung:
Google Büros

Mietfläche:
15’900 ㎡

Energielabel:
Grundausbau SNBS und Minergie, Mieterausbau LEED

Beton Recycling:
> 90 %

CO₂-Einsparung dank Erhalt:
2’600 Tonnen CO₂

Mehr Wissen rund um Beton:

Projekte, Kreislaufwirtschaft, Recyclingbeton

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