Infrastrukturbau, Projekte
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Ein Lehnenbauwerk, das Grenzen im Fels verschiebt

Es gibt Baustellen, die fallen auf und solche, die man einfach bestaunen muss. Zwischen Vitznau und Gersau entsteht ein Lehnenbauwerk, das aussieht, als würde es über dem Vierwaldstättersee tanzen. Dahinter steckt keine Zauberei, sondern Ingenieurskunst, die jeden Tag am steilen Fels, im engen Raum und mit digitaler Präzision Grenzen verschiebt.

Ein Lehnenbauwerk, das Grenzen im Fels verschiebt
Visualisierung des neuen Lehnenbauwerks zwischen Vitznau und Gersau. Das neue Bauwerk scheint über dem Vierwaldstättersee zu schweben; präzise geplant, harmonisch in die Landschaft eingebettet. Bildrecht: Bänziger Partner AG Zürich
Visualisierung des neuen Lehnenbauwerks zwischen Vitznau und Gersau. Das neue Bauwerk scheint über dem Vierwaldstättersee zu schweben; präzise geplant, harmonisch in die Landschaft eingebettet. Bildrecht: Bänziger Partner AG Zürich

Die Aufnahmen geben spannende Einblicke in die Arbeiten am Lehnenbauwerk zwischen Vitznau und Gersau. Das Video zeigt anschaulich die komplexen Bauabläufe, die enge Lage am Fels und am See sowie die einspurige Verkehrsführung. Ein sehenswertes Zeitdokument der Ingenieurskunst und Baupraxis.

Die Kantonsstrasse K 2b verbindet die Gemeinden Greppen, Weggis, Vitznau und Gersau mit den regionalen Zentren Küssnacht am Rigi und Brunnen. Sie ist eine wichtige Verkehrsader entlang des Vierwaldstättersees und stellt die Verbindung zum Nationalstrassennetz sicher. Im Abschnitt zwischen Bürglen und der Kantonsgrenze Schwyz genügte die in den Jahren 1885/86 gebaute und 1939 verbreiterte Strasse den heutigen Normen und Anforderungen jedoch nicht mehr: Der bauliche Zustand war ungenügend, die Fahrbahn zu schmal und die Kunstbauten sanierungsbedürftig.

Um die Verkehrssicherheit zu erhöhen und die langfristige Stabilität der Strasse zu gewährleisten, wurde ein umfassendes Ausbau- und Sanierungsprojekt erarbeitet. Der rund 400 Meter lange Strassenabschnitt zwischen Vitznau und Gersau wird über dem Wasser des Vierwaldstättersees instandgesetzt und erweitert. Kernstück des Projekts ist ein neues Lehnenbauwerk mit einer Länge von 313 Metern, das sich elegant dem natürlichen Felsverlauf anpasst . «Die grösste Herausforderung war die Festlegung der Bauwerksgeometrie – im Einklang mit Verkehr, Gestaltung, Terrain, Geologie, Statik und konstruktiven Erfordernissen», erklärt Stephan Etter, Ingenieur bei Bänziger Partner.

Die Planung basierte auf einer detaillierten Risikobeurteilung und einem Variantenstudium. Aufgrund der Rückmeldungen aus der Vernehmlassung wurde das ursprüngliche Kunstbautenkonzept vollständig überarbeitet. Im Bauprojekt erfolgte eine technische Optimierung unter Einbezug vertiefter geologischer Untersuchungen und eines Spezialisten für Gestaltung. So entstand ein Bauwerk, das sowohl technisch als auch ästhetisch überzeugt.

Technik trifft Topografie

Das Lehnenbauwerk besteht aus zwei Tragwerkskonzepten: In den seitlichen, weniger steilen Bereichen kommen Winkelstützmauern zum Einsatz. Im zentralen, stark geneigten Abschnitt wird die Strasse durch eine rückverankerte Auskragung mit Rippen getragen. Diese Konstruktion besteht aus einer 60 Zentimeter starken Kragplatte, die alle vier Meter auf 40 Zentimeter breiten Querscheiben aufliegt. Querscheiben, Rückwand und Streifenfundament bilden ein integrales, robustes Bauwerk, das mit vorgespannten Ankern im Felsen verankert ist. «Wir wollten die geologischen und topographischen Unstetigkeiten mit einem einheitlich gestalteten Bauwerk überspielen», sagt einer der Ingenieure. «Wo nötig, haben wir den Fels sogar mit Mikropfählen und Ankern bewehrt.»

Digitale Präzision

Zur Bewältigung der komplexen geometrischen Anforderungen setzten die Planer auf eine parametrische 3D-Modellierung. Das gesamte Bauwerk, inklusive Gelände, Felsoberflächen, Anker, Mikropfähle und Bauhilfsmassnahmen, wurde digital modelliert.

«Die parametrische Modellierung erlaubt es, Entwürfe effizient zu prüfen und anzupassen», so Stephan Etter, leitender Ingenieur beim Planungsbüro Bänziger Partner AG. «Als wir merkten, dass die polygonalisierte Rückwand die geometrische Komplexität massiv erhöhte, wussten wir: Das schaffen wir nur mit digitaler Präzision.»

So konnten räumliche Konflikte frühzeitig erkannt und Planungssicherheit geschaffen werden. Das 3D-Modell diente zudem als Grundlage für die Ausführung, insbesondere beim Felsabtrag, der Schalung und lieferte dem Bauherrn realitätsnahe Visualisierungen.

Das parametrische 3D-Modell zeigt das Bauwerk mit Ankern und Mikropfählen im Detail.
Das parametrische 3D-Modell zeigt das Bauwerk mit Ankern und Mikropfählen im Detail.
Die digitale Planung ermöglichte, die komplexe Geometrie präzise zu prüfen, räumliche Konflikte frühzeitig zu erkennen und die Ausführung effizient vorzubereiten.
Die digitale Planung ermöglichte, die komplexe Geometrie präzise zu prüfen, räumliche Konflikte frühzeitig zu erkennen und die Ausführung effizient vorzubereiten.
K 2b Galerie 3D-Modelle

Gestaltung und Nachhaltigkeit

Ein wichtiges Ziel war es, das Bauwerk harmonisch in die Landschaft einzupassen. «Ein gut gestaltetes Bauwerk muss sich nicht verstecken», betont das Planungsteam. «Gerade der Kontrast zwischen präzisen, künstlichen Formen und der natürlichen Umgebung ist reizvoll.» Der Architekt Eduard Imhof brachte dafür das nötige gestalterische Feingefühl ein – und sorgte dafür, dass die Kunstbauten trotz Robustheit leicht wirken.

Auch das Thema Nachhaltigkeit spielte eine zentrale Rolle. Neben dem Schutz der Landschaft standen insbesondere Dauerhaftigkeit und Materialeffizienz im Fokus. Das Bauwerk ist auf eine Nutzungsdauer von hundert Jahren ausgelegt. Verwendet wurden lokal verfügbare Materialien: Betonzuschläge aus Seewen (SZ), Zement aus Siggenthal (AG) und Recycling-Betonstahl aus Gerlafingen (SO). «Für solche Bauwerke ist Stahlbeton alternativlos – aber wir haben ihn bewusst sparsam eingesetzt», erklärt Stephan Etter, Ingenieur bei Bänziger Partner.

Bau und Betrieb

Der Bau erfolgt unter einspuriger Verkehrsführung mit Lichtsignalanlage, einzelnen Nachtsperrungen und zwei kurzzeitigen Vollsperrungen von jeweils drei Wochen. Die Gesamtbauzeit beträgt rund zwei Jahre, die Gesamtkosten liegen bei rund 22,9 Millionen Franken.

Das Projekt zeigt eindrucksvoll, wie moderne Ingenieurbaukunst und digitale Planung zu einer nachhaltigen, landschaftlich sensiblen Lösung führen können. Das neue Lehnenbauwerk integriert sich als gleichmässige, elegante Linie in das steile Gelände oberhalb des Vierwaldstättersees. Trotz exponierter Lage und anspruchsvoller Geologie fügt sich das Bauwerk harmonisch in das Bundesinventar für Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) ein – ein gelungenes Beispiel dafür, wie technisches Können und gestalterische Qualität Hand in Hand gehen.

Stephan Etter, leitender Ingenieur bei Bänziger Partner AG
Stephan Etter, leitender Ingenieur bei Bänziger Partner AG

Wir durften Stephan Etter zu diesem aussergewöhnlichen Projekt befragen.

Was macht Sie an diesem Projekt besonders stolz? Besonders stolz bin ich auf die präzise Zusammenarbeit im Team. Unsere digitale Planung hat sich in der Ausführung als sehr verlässlich erwiesen.

Welcher Moment bleibt in Erinnerung? Vielleicht der, als der neue Strassenrand vor Ort ausgesteckt war – weit aussen über dem Abgrund. Da spürte man plötzlich, was es zu leisten galt.

Was zeichnet die Zusammenarbeit aus? Das Vertrauen und der gegenseitige Respekt. Insbesondere innerhalb der Ingenieurgemeinschaft und gegenüber der Bauherrschaft konnte viel Vertrauen aufgebaut werden. Die offene Kommunikation – auch wenn es mal nicht so rund lief – hat die Abwicklung des Projekts stark vereinfacht.

Technisches Konzept der Kunstbauten

Je nach Geländeform kommen unterschiedliche Bauweisen zum Einsatz:

Winkelstützmauern: In den seitlich weniger steilen Bereichen sichern talseitige Winkelstützmauern die Strasse. Sie sind bis zu 7,3 Meter hoch, mit geneigtem Fundament und möglichst flach auf dem Felsen fundiert. Wo die Fundationsverhältnisse ungünstig sind, übernehmen Mikropfähle und ungespannte Anker die Lasten. Die Stützmauern sind monolithisch mit benachbarten Bauwerken verbunden.

Auskragungen im Lockergestein: In Bereichen mit überdecktem Felsen wird die Fahrbahn durch eine rückverankerte, auskragende Rippenkonstruktion getragen. Die Breite der Auskragung der 60 Zentimeter starken, auf den Rippen aufgelegten Fahrbahnplatte variiert zwischen 2,6 bis 6,2 Metern. Die Rückwand erreicht Höhen bis acht Meter und wird durch ungespannte und vorgespannte Anker im Fels stabilisiert. Bei ungünstiger Geologie erfolgt die Fundation auf Mikropfählen.

Auskragungen im Fels: Im steilen Gelände besteht die Konstruktion aus talseitigen Rippen mit einem Raster von vier Metern. Die Fahrbahnplatte ist bis zu 6,2 Meter breit, die Rückwand rund 3,5 Meter hoch. Die Rückverankerung erfolgt mit vorgespannten Ankern unterhalb der Fahrbahn. Besonders anspruchsvoll ist ein Felseinschnitt, der über 18 Meter frei überbrückt wird – ohne vertikale Fundation. In diesem Bereich wird der Fels zusätzlich mit Mikropfählen und Ankern verstärkt.

Am Bau Beteiligte

Bauherrschaft:
Kanton Luzern, Verkehr und Infrastruktur (vif) Abteilung Realisierung Strassen & Kanton Schwyz, Tiefbauamt

Projektierung und Bauleitung:
WSP AG Luzern & Bänziger Partner AG, Zürich & Go Bau AG, Cham (IG Horn)

Architektonische Begleitung:
Eduard Imhof, Dipl. Arch. ETH/SIA, Luzern 

Geologie:
Keller + Lorenz AG, Luzern

Umwelt:
AFRY Schweiz AG, Luzern

Bauausführung:
Marti Zentralschweiz Bauunternehmung AG, Luzern & Contratto AG, Goldau & Walo Bertschinger AG, Ebikon (ARGE MaCoWa)

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