Was bedeutet «differenzierte Erhaltung» im Kontext der Architektur und wie kann sie auf den Umbau von Gebäuden angewendet werden?
Den Begriff der «differenzierten Erhaltung» hat Benedikt Loderer eingeführt. Er beschreibt die Idee, jedes Gebäude vor einem möglichen Abbruch auf erhaltenswerte Bauteile zu untersuchen. Dabei sind nicht nur die kulturell erhaltenswerten Elemente gemeint, sondern im Grunde alles, was brauchbar ist. Nach der Aufstockung in den Siebzigerjahren war das Weinlager eine einfache, blechverkleidete «Gewerbekiste» und keine architektonische Schönheit. Darunter befand sich aber die tragfähige und robuste Betonstruktur aus den Fünfzigerjahren. Diese galt allein schon wegen der gespeicherten grauen Energie als wertvoll und die Pilzstützen hatten zudem eine kräftige skulpturale Form. Die bewusste Weiterverwendung der rigiden bestehenden Tragstruktur unter der Bedingung der Transformation vom Lager- zum Wohnhaus löste ungeahnte räumliche Qualitäten aus und führte zu neuen unkonventionellen Lösungen. So haben wir die Leitung der räumlichen Gliederung an die Pilzstützen delegiert. Die hierdurch freigestellten Stützen in den kleinen Mietwohnungen erinnern uns an die Säulen ägyptischer Tempel: ein Wald aus Stützen – raumverdrängend und zugleich Zwischenraum offenlegend.
Welche Herausforderungen gibt es bei der Wiederverwendung von vorhandenen Gebäuden respektive Tragstrukturen?
Eine Betontragstruktur aus den Fünfzigerjahren ist nicht vergleichbar mit heutigen, ungerichteten Flachdecken. Der Gehalt an Armierungseisen ist minimal und die Stabilität gegenüber horizontalwirkenden Kräften, im Falle eines Erdbebens, entspricht bei weitem nicht den heutigen Anforderungen. Um dem Gebäude ein drittes Leben im 21. Jahrhundert zu schenken, braucht es neuen Stahlbeton im Verbund mit der alten Struktur, grossenteils freigelegt über HDW-Verfahren (Hochdruckwasserstrahlen). Das HDW-Verfahren ist laut und braucht schallisolierende Massnahmen. 70 Jahre alte Strukturen sind relativ unpräzise, die vielen Anpassarbeiten sind aufwendig und verlängern die Bauzeit. Viele Schichten und Probleme kommen erst mit dem Rückbau in ihrem gesamten Ausmass zum Vorschein. Eine gewohnte lineare Planung ist nicht möglich, Flexibilität und prozessorientiertes Arbeiten aller Beteiligten sind verlangt.
Inwiefern können neue Technologien und Baumaterialien in den Umbauprozess einbezogen werden, um eine nachhaltige und ökologische Bauweise zu fördern?
Die Bauindustrie muss sich ganz allgemein der Kreislaufwirtschaft und im Speziellen dem Umbau anpassen. Im Umbauen und Weiterbauen liegt ein grosses Potential – ökologisch und architektonisch.
Welche Massnahmen ergreifen Sie, um die Betriebsphase des Gebäudes energieeffizient und nachhaltig zu gestalten?
Das Weinlager hat für sein drittes Leben als Wohnhaus die energetische Autarkie angestrebt. Die Wärme für Heizung und Warmwasser wird über eine Grundwasser-Wärmepumpe bereitgestellt. Im Sommer wird über die Fussbodenheizung entwärmt (Freecooling). Praktisch jede horizontale Dachfläche (zwei Attikageschosse mit überdachter Gemeinschaftsterrasse) wurde mit Photovoltaik-Paneelen belegt (Leistung: 150 kWp). Dazu kommen mehrere Lüftungsanlagen mit WRG (Wärmerückgewinnung) und einer Zisterne für Grauwassernutzung. Durch die dichte Nutzung von 170 Bewohner*innen mit je 40 m2 / EBF (Energiebezugsfläche) liegt die energetische Selbstversorgung bei 65%. Das Gebäude ist jetzt, nach der Transformation, mit dem Minergie-P-Eco Label zertifiziert.
«Grau ist aller Beton und golden seine Energie.» Diese darf nicht länger verschwendet werden. Was bedeutet das für eine Sanierung respektive einen Neubau?
Für die Sanierung und den Umbau bedeutet das Ertüchtigen und Weiterverwenden. Den klassischen Ersatzneubau soll es nur noch in Ausnahmefällen geben und mit grauen Emissionsgrenzwerten. Das Weinlager planten wir nach der Maxime «Selbst, wenn es den Klimawandel nicht geben sollte, ist es besser, das Haus nicht abzubrechen und die Geschichte auszulöschen, sondern diesem ein drittes Leben zu schenken».
Wie werden ökologische Aspekte, wie Ressourcenverbrauch und Umweltauswirkungen, in die Lebenszyklusbetrachtung einbezogen?
In der Entwicklung des Weinlager-Projekts stand die Nachhaltigkeit zu Beginn an oberster Stelle. Im Beton steckt die meiste graue Energie, deswegen hat die Bauherrin bereits im Studienauftrag die Weiterverwendung der Tragstruktur empfohlen. Aber auch im Rückbau der anderen Elemente, wie Stahlträger, Stahlstützen, Trapezbleche usw., wurden ökologische Aspekte berücksichtigt. Sie wurden feinsäuberlich getrennt und in anderen Bauten direkt wiederverendet (Trapezblech) oder der Recyclingindustrie zugeführt.
Wie werden die Materialwahl und Bauweise beeinflusst, um eine lange Lebensdauer und leichte Rückbau- oder Recyclingfähigkeit zu gewährleisten?
Das Thema der Rückbaufähigkeit erhält zunehmend einen höheren Stellenwert und war Grundlage für viele Einzelentscheide. Zum Beispiel wurde die selbstragende Balkonschicht aus Metallstandardprofilen zusammengeschraubt und dem Gebäude vorgestellt.
Wie werden soziale Aspekte, wie Nutzerbedürfnisse und Anpassungsfähigkeit, in die Lebenszyklusbetrachtung integriert?
Unser Fokus galt der Systemtrennung. Die kompletten Wohnungseinbauten sind nichttragend ausgeführt. Das Gebäude hat dadurch eine hohe Nutzungsflexibilität und könnte in 50 bis 100 Jahren, für ein viertes Leben, wieder zu einem Lager- oder Bürohaus werden – je nach Bedürfnis der kommenden Generation. Ein umgebautes Haus ist wahrscheinlich wertvoller als ein Neubau, weil seine Anpassungsfähigkeit bereits bewiesen wurde. Neben der ökologischen Nachhaltigkeit haben uns vor allem die sozialen Aspekte der Nachhaltigkeit interessiert. Das Haus als Stadt, mit inneren Wegen, Strassen und Plätzen für die Gemeinschaft, fördert den Austausch und das Zusammenleben der 170 Bewohner*innen und vernetzt die häusliche mit der städtischen Sphäre.