Lieber Herr Roth, besten Dank für Ihre Zeit. Läuft derzeit alles wie geplant?
Ja. Wir sind momentan noch im Wintermodus. Der Grimselpass ist für den öffentlichen Verkehr noch gesperrt. Die Zufahrt ist nur bis Guttannen geöffnet. Obwohl derzeit nicht übermässig viel Schnee liegt, kann es bis in den Mai oder sogar Juni immer wieder zu starken Schneefällen kommen. Generell benötigen wir im Winter viel mehr Zeit, um zum Arbeitsort zu gelangen. Das gehört dazu. Erfreulich ist akutell, dass wir trotz der prognostizierten Energiemangellage sehr gute Pegelstände in den Seen haben. Kurz: Alles läuft nach Plan in der Grimselwelt.
Der Begriff «Staudammwärter» klingt exotisch und ist vielen möglicherweise unbekannt. Was macht ein Staudammwärter?
Wir sind eigentlich Talsperrenwärter. Die Betonmauern, die wir betreuen, werden Talsperren genannt. Staumdämme sind hingegen aus geschüttetem Material und haben keine gebogenen Betonmauern wie bei uns. Die Mattmark ob Saas Almagell ist ein gutes Beispiel für einen Staudamm. Die Spitallamm bei uns an der Grimsel ist eine typische Talsperre.
Aber zum Job: Ein Talsperrenwärter kontrolliert und registriert die kleinsten Bewegungen in der Mauer. Pro Kontrollgang nehmen wir 50 bis 60 Ablesungen vor. Dabei sind die sogenannten Messpendel die wichtigsten Instrumente. Das sind Schwimmgefässe, die sich in zwei Dimensionen bewegen können und kleinste Bewegungen in der Mauer wiedergeben. Mit dem mitgeführten Koordiskop können wir diese Bewegungen ablesen. Die Sperre bewegt sich dauernd, weil Wasserdruck und Temperaturschwankungen auf die Betonmasse einwirken.
Über das Jahr hinweg lässt sich anhand der Messungen vom Mauerfuss bis hinauf zur Krone eine Bewegung von 1,5 bis 3 cm feststellen. Im Sommer zieht sich die Mauer etwas Richtung See zurück, während sie sich im Winter leicht talwärts ausdehnt. Pro Jahr führen wir 13 Messungen durch, registrieren alles, bereiten die Daten auf und rapportieren ans Bundesamt für Energie BFE.
Dazu gehören auch die Messungen des Sickerwassers. Keine Sperre ist zu 100 Prozent wasserdicht. Die Anlagen sind so konstruiert, dass Sickerwasser kanalisiert und an verschiedenen Auffangstellen gesammelt werden kann. Verändert sich die Menge an Sickerwasser, können wir auch ablesen, ob die Veränderungen im akzeptablen Rahmen liegen oder nicht.
Gelegentlich treten in der Schweiz kleinere seismische Bewegungen auf, wie beispielsweise vor zwei Jahren ein Ereignis im Kanton Glarus mit einer Magnitude von etwa 4. Das spürt man normalerweise nur am Ort des Geschehens. Aber sicher ist sicher: Wir erhalten einen Bericht vom BFE und überprüfen umgehend, ob diese Aktivität einen Einfluss auf unsere Anlagen haben könnte. Insgesamt bestehen die KWO aus 13 Kraftwerken und sieben Talsperren. Es gibt also viel zu tun!
Wie sind Sie zum Job gekommen?
Da ich in Innertkirchen im Tal aufgewachsen bin, bin ich automatisch mit der Grimselwelt vertraut geworden. Gelernt habe ich ursprünglich Zimmermann. Da ich gerne in den Bergen unterwegs bin und sehr gerne mit genauen Zahlen arbeite – ich würde fast sagen, dass ich ein wahrer Zahlenfreak bin –, habe ich mich auf die ausgeschriebene Stelle seinerzeit beworben.
Was begeistert Sie an ihrem Beruf?
Die Vielseitigkeit gefällt mir sehr. Bei diesem Job ist man von Innertkirchen aus auf 625 bis auf 2300 m ü. M. bei der Oberaar unterwegs und das bei jedem Wetter. Die gemessenen Daten auszuwerten ist einfach spannend. Es ist grossartig, alle Einflussfaktoren zu berücksichtigen und die ganze Messhistorie in Relation zu setzen. Die Spitallamm-Sperre wurde zwischen 1925 bis 1932 errichtet, weshalb es eine Fülle an historischen Daten gibt, auf die zurückgegriffen werden kann. Gemessen wurde da von Beginn weg, einfach mit anderen Geräten. Die aktuellen stammen aus den 80-iger Jahren.
Gibt es Aspekte Ihres Jobs, die Sie weniger mögen?
Gar nichts! Für mich ist es ein absoluter Traumjob.
Gibt es eine Ausbildung zum Talsperrenwärter?
Das gibt es nicht, nein. Wir lernen vielmehr von unseren Teamkollegen. Wir sind ja immer zu zweit unterwegs und lernen darum direkt «on the job». Ausserdem vernetzen wir uns mit anderen Wasserkraftwerken, um unser Wissen zu vertiefen. Der Job erfordert, dass man trittsicher und schwindelfrei ist. Platzangst wäre ebenfalls kein guter Begleiter.
Wie viele Talsperrenwärter gibt es?
Das weiss ich nicht so genau. Ich schätze, dass es in der Schweiz rund 200 gibt. Und nicht alle sind nur Talsperrenwärter. Viele üben auch noch andere Tätigkeiten aus, vor allem bei kleineren Werken.
Sind Sie in einem Club organisiert? Vielleicht sogar international und kennen etwa die Sperrenwärter von Assuan oder Itaipù?
Es gibt das Schweizerische Talsperren Kommittee STK. Die Organisation veranstaltet jährlich eine Tagung, die den Austausch unter den Talsperrenwärtern fördert. Das STK pflegt auch Verbindungen ins Ausland. Ich persönlich bin nicht so ein Globetrotter. Ich besuche gerne die Anlagen in der Nähe. In Assuan zum Beispiel war ich noch nie. Aber man soll ja nie nie sagen!
Man könnte denken, dass Staudämme, die fast 100 Jahre alt sind, sich ähnlich wie alte Holzchalets verhalten und knarren und ächzen. Ist das der Fall?
Das kann man nicht vergleichen. Eine Staumauer ist absolut geräuschlos. Er herrscht totale Stille. Nur an den Flanken kann man manchmal das Rauschen des Sickerwassers hören. Ansonsten ist es in den Gängen mucksmäuschenstill und es gibt auch keine Tiere. Vielleicht verirrt sich höchstens mal ein Frosch in einen der Gänge.
Wie fühlt es sich an, wenn man in diese unvorstellbare Masse aus Beton eintaucht?
Am Fuss ist die Spitallamm 70 Meter dick und an der Krone misst sie sechs Meter. Wenn man sich in oder entlang der Mauer bewegt, ist das beeindruckend. Drinnen, weil man rundum in Beton «eingepackt» ist. Und wenn man auf den Aussengängen der Mauer entlanggeht, dann ist die Höhe jedes Mal ein Erlebnis.
Welche Massnahmen werden ergriffen, wenn Sie einen Mangel im Beton an der Talsperre feststellen?
Beheben muss man eigentlich nichts. Gelegentlich müssen möglicherweise im Innenbereich Stellen wie Treppen oder Rigolen ausgebessert werden. Es gibt jedoch konstruktionsbedingte Risse, die oft im oberen Teil der Mauer auftreten, wo sich die einzelnen Betonschichten verbinden. Solche Risse sind aber ganz normal und werden regelmässig als zusätzliches Messindiz überwacht.
Wie ist eigentlich die Arbeit im Winter? Die Pässe sind geschlossen, die Grimselstrecke nur bis Guttannen geöffnet. Wie kommen Sie zur Staumauer?
Manche Talsperren sind schwer zugänglich und erfordern daws Gehen auf Terrassenwegen ausserhalb der Mauer, um in einen Stollen zu gelangen. Auch die Anfahrt zur Sperre Spitallamm ist langwieriger. Man gelangt bei Lawinengefahr mit einer Stollenbahn dorthin. Die führt dann bis zur Handegg. Danach steigt man in einen Tunnel um, der mit einem Auto befahren werden kann. Dann ist man an der Mauer. Zur Talsperre Oberaar führt von der Spitallamm beziehungsweise vom Grimsel Hospiz eine Kabinenbahn in zwei Sektionen bis zur Oberaar hinauf. Im Sommer ist diese Bahn dann auch für den Tourismus offen. Und wenn wir zur Gelmersperre oder auf die Mattenalp müssen, geht das per Helikopter. Es braucht also schon etwas mehr Zeit im Winter!