Beton-People, Interview
10 Min.

Beton lässt Energie freien Lauf

In unserer fortlaufenden Serie über Persönlichkeiten, die beruflich oder in ihrer Freizeit mit dem Baustoff Beton zu tun haben, sind wir auf einen faszinierenden Beruf gestossen: den des Talsperrenwärters. Die Arbeit in den grössten zusammenhängenden Betonbauten des Landes liefert spannende Einblicke, wie wir am Beispiel Staumauer Spitallamm im Grimselgebiet erfahren durften.
 

Beton lässt Energie freien Lauf

Wie Beton Wasser bändigt und Energie liefert

Talsperrenwärter führen ihre Arbeit oft in der verborgenen Welt der imposanten Staumauern aus. Sie überprüfen unablässig, ob und wie sich die riesigen Betonmassen bewegen. Und diese Massen sind wirklich sehr imposant. Die monumentale Grande-Dixence, welche mit 285 m als höchste Staumauer Europas gilt, besteht aus unglaublichen 5,96 Millionen Kubikmeter Beton. Das entspricht mehr als 100 Basler Roche-Towers (mit 56’000 Kubikmeter Beton). Eine weitere Veranschaulichung: die Cheops-Pyramide bei Gizeh wird auf ein Materialvolumen von 2,58 Mio Kubikmeter geschätzt.

In der Schweiz sind rund 220 grosse Talsperren in Betrieb, die unter der Aufsicht des Bundes stehen. Zusätzlich gibt es viele kleinere Anlagen, die von den Kantonen beaufsichtigt werden. Die alpinen Grossbauwerke benötigen eine ständige Kontrolle, um sicherzustellen, dass das Wasser aus den Stauseen in unseren Alpen über viele Jahre die Turbinen in den Hydrokraftwerken mit einem gleichbleibend hohen Wirkungsgrad antreiben kann.

An der Sperre Spitallamm im Grimselgebiet wird mithilfe von Beton eine beträchtliche Menge Wasser gestaut, das seit 1932 als Energiequelle dient. Derzeit entsteht unmittelbar vor der bestehenden Staumauer eine neue, was den Vorteil hat, dass der See nicht abgelassen werden muss und somit die Stromproduktion auch während des Baus fortgesetzt werden kann. Eine erfolgreiche Methode, die man bereits 1961 an der Grand-Dixence und anderen Speicheranlagen angewandt hat.

Peter Roth zählt zu den ungefähr 200 Talsperrenwärtern in der Schweiz und hat dabei die Aufgabe, die periodischen Kontrollen der Staumauern der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) durchzuführen. Zum Kraftwerksverbung gehören neben den Grimselseemauern Spitalamm und Seeuferegg auch Mauern Oberaar, Räterichsboden, Gelmer, Totensee, Trübtensee und Mattenalp. Mit insgesamt 13 Kraftwerken produziert die KWO rund 2400 GWh pro Jahr. In der gesamten Schweiz werden aus Speicherkraftwerken jährlich rund 17’660 GWh gewonnen (1).
 

Wir hatten die Gelegenheit, Peter Roth über seine Tätigkeit als Staudammbauer sowie über seine Beziehung zu den imposanten Betonstaudämmen, an denen er arbeitet, zu interviewen.

Staumauer Oberaar
Staumauer Oberaar
Herr Roth bei der Arbeit
Herr Roth bei der Arbeit

Lieber Herr Roth, besten Dank für Ihre Zeit. Läuft derzeit alles wie geplant?
Ja. Wir sind momentan noch im Wintermodus. Der Grimselpass ist für den öffentlichen Verkehr noch gesperrt. Die Zufahrt ist nur bis Guttannen geöffnet. Obwohl derzeit nicht übermässig viel Schnee liegt, kann es bis in den Mai oder sogar Juni immer wieder zu starken Schneefällen kommen. Generell benötigen wir im Winter viel mehr Zeit, um zum Arbeitsort zu gelangen. Das gehört dazu. Erfreulich ist akutell, dass wir trotz der prognostizierten Energiemangellage sehr gute Pegelstände in den Seen haben. Kurz: Alles läuft nach Plan in der Grimselwelt.

Der Begriff «Staudammwärter» klingt exotisch und ist vielen möglicherweise unbekannt. Was macht ein Staudammwärter?
Wir sind eigentlich Talsperrenwärter. Die Betonmauern, die wir betreuen, werden Talsperren genannt. Staumdämme sind hingegen aus geschüttetem Material und haben keine gebogenen Betonmauern wie bei uns. Die Mattmark ob Saas Almagell ist ein gutes Beispiel für einen Staudamm. Die Spitallamm bei uns an der Grimsel ist eine typische Talsperre.

Aber zum Job: Ein Talsperrenwärter kontrolliert und registriert die kleinsten Bewegungen in der Mauer. Pro Kontrollgang nehmen wir 50 bis 60 Ablesungen vor. Dabei sind die sogenannten Messpendel die wichtigsten Instrumente. Das sind Schwimmgefässe, die sich in zwei Dimensionen bewegen können und kleinste Bewegungen in der Mauer wiedergeben. Mit dem mitgeführten Koordiskop können wir diese Bewegungen ablesen. Die Sperre bewegt sich dauernd, weil Wasserdruck und Temperaturschwankungen auf die Betonmasse einwirken.

Über das Jahr hinweg lässt sich anhand der Messungen vom Mauerfuss bis hinauf zur Krone eine Bewegung von 1,5 bis 3 cm feststellen. Im Sommer zieht sich die Mauer etwas Richtung See zurück, während sie sich im Winter leicht talwärts ausdehnt. Pro Jahr führen wir 13 Messungen durch, registrieren alles, bereiten die Daten auf und rapportieren ans Bundesamt für Energie BFE.

Dazu gehören auch die Messungen des Sickerwassers. Keine Sperre ist zu 100 Prozent wasserdicht. Die Anlagen sind so konstruiert, dass Sickerwasser kanalisiert und an verschiedenen Auffangstellen gesammelt werden kann. Verändert sich die Menge an Sickerwasser, können wir auch ablesen, ob die Veränderungen im akzeptablen Rahmen liegen oder nicht.

Gelegentlich treten in der Schweiz kleinere seismische Bewegungen auf, wie beispielsweise vor zwei Jahren ein Ereignis im Kanton Glarus mit einer Magnitude von etwa 4. Das spürt man normalerweise nur am Ort des Geschehens. Aber sicher ist sicher: Wir erhalten einen Bericht vom BFE und überprüfen umgehend, ob diese Aktivität einen Einfluss auf unsere Anlagen haben könnte. Insgesamt bestehen die KWO aus 13 Kraftwerken und sieben Talsperren. Es gibt also viel zu tun!

Wie sind Sie zum Job gekommen?
Da ich in Innertkirchen im Tal aufgewachsen bin, bin ich automatisch mit der Grimselwelt vertraut geworden. Gelernt habe ich ursprünglich Zimmermann. Da ich gerne in den Bergen unterwegs bin und sehr gerne mit genauen Zahlen arbeite – ich würde fast sagen, dass ich ein wahrer Zahlenfreak bin –, habe ich mich auf die ausgeschriebene Stelle seinerzeit beworben.

Was begeistert Sie an ihrem Beruf?
Die Vielseitigkeit gefällt mir sehr. Bei diesem Job ist man von Innertkirchen aus auf 625 bis auf 2300 m ü. M. bei der Oberaar unterwegs und das bei jedem Wetter. Die gemessenen Daten auszuwerten ist einfach spannend. Es ist grossartig, alle Einflussfaktoren zu berücksichtigen und die ganze Messhistorie in Relation zu setzen. Die Spitallamm-Sperre wurde zwischen 1925 bis 1932 errichtet, weshalb es eine Fülle an historischen Daten gibt, auf die zurückgegriffen werden kann. Gemessen wurde da von Beginn weg, einfach mit anderen Geräten. Die aktuellen stammen aus den 80-iger Jahren.

Gibt es Aspekte Ihres Jobs, die Sie weniger mögen?
Gar nichts! Für mich ist es ein absoluter Traumjob.

Gibt es eine Ausbildung zum Talsperrenwärter?
Das gibt es nicht, nein. Wir lernen vielmehr von unseren Teamkollegen. Wir sind ja immer zu zweit unterwegs und lernen darum direkt «on the job». Ausserdem vernetzen wir uns mit anderen Wasserkraftwerken, um unser Wissen zu vertiefen. Der Job erfordert, dass man trittsicher und schwindelfrei ist. Platzangst wäre ebenfalls kein guter Begleiter.

Wie viele Talsperrenwärter gibt es?
Das weiss ich nicht so genau. Ich schätze, dass es in der Schweiz rund 200 gibt. Und nicht alle sind nur Talsperrenwärter. Viele üben auch noch andere Tätigkeiten aus, vor allem bei kleineren Werken.

Sind Sie in einem Club organisiert? Vielleicht sogar international und kennen etwa die Sperrenwärter von Assuan oder Itaipù?
Es gibt das Schweizerische Talsperren Kommittee STK. Die Organisation veranstaltet jährlich eine Tagung, die den Austausch unter den Talsperrenwärtern fördert. Das STK pflegt auch Verbindungen ins Ausland. Ich persönlich bin nicht so ein Globetrotter. Ich besuche gerne die Anlagen in der Nähe. In Assuan zum Beispiel war ich noch nie. Aber man soll ja nie nie sagen!

Man könnte denken, dass Staudämme, die fast 100 Jahre alt sind, sich ähnlich wie alte Holzchalets verhalten und knarren und ächzen. Ist das der Fall?
Das kann man nicht vergleichen. Eine Staumauer ist absolut geräuschlos. Er herrscht totale Stille. Nur an den Flanken kann man manchmal das Rauschen des Sickerwassers hören. Ansonsten ist es in den Gängen mucksmäuschenstill und es gibt auch keine Tiere. Vielleicht verirrt sich höchstens mal ein Frosch in einen der Gänge.

Wie fühlt es sich an, wenn man in diese unvorstellbare Masse aus Beton eintaucht?
Am Fuss ist die Spitallamm 70 Meter dick und an der Krone misst sie sechs Meter. Wenn man sich in oder entlang der Mauer bewegt, ist das beeindruckend. Drinnen, weil man rundum in Beton «eingepackt» ist. Und wenn man auf den Aussengängen der Mauer entlanggeht, dann ist die Höhe jedes Mal ein Erlebnis.

Welche Massnahmen werden ergriffen, wenn Sie einen Mangel im Beton an der Talsperre feststellen?
Beheben muss man eigentlich nichts. Gelegentlich müssen möglicherweise im Innenbereich Stellen wie Treppen oder Rigolen ausgebessert werden. Es gibt jedoch konstruktionsbedingte Risse, die oft im oberen Teil der Mauer auftreten, wo sich die einzelnen Betonschichten verbinden. Solche Risse sind aber ganz normal und werden regelmässig als zusätzliches Messindiz überwacht.

Wie ist eigentlich die Arbeit im Winter? Die Pässe sind geschlossen, die Grimselstrecke nur bis Guttannen geöffnet. Wie kommen Sie zur Staumauer?
Manche Talsperren sind schwer zugänglich und erfordern daws Gehen auf Terrassenwegen ausserhalb der Mauer, um in einen Stollen zu gelangen. Auch die Anfahrt zur Sperre Spitallamm ist langwieriger. Man gelangt bei Lawinengefahr mit einer Stollenbahn dorthin. Die führt dann bis zur Handegg. Danach steigt man in einen Tunnel um, der mit einem Auto befahren werden kann. Dann ist man an der Mauer. Zur Talsperre Oberaar führt von der Spitallamm beziehungsweise vom Grimsel Hospiz eine Kabinenbahn in zwei Sektionen bis zur Oberaar hinauf. Im Sommer ist diese Bahn dann auch für den Tourismus offen. Und wenn wir zur Gelmersperre oder auf die Mattenalp müssen, geht das per Helikopter. Es braucht also schon etwas mehr Zeit im Winter!
 

In einem Staudamm ist ganz schön viel Baumaterial verbaut. Über die Grande-Dixence liest man, dass sie grösser beziehungsweise schwerer als die Cheops-Pyramide sei. Kann man sagen, dass eine Staumauer eine gewisse Ehrfurcht auslöst?
Tatsächlich wirkt die Spitallamm-Mauer mit ihren Passerellen fast wie eine kopfüber stehenden Pyramide. Ähnlich ist auch, dass die Mauer ohne Armierungseisen gebaut wurde – man spricht von einer Schwergewichtsmauer, bei der allein das Gewicht für die Statik sorgt. Lediglich zur Krone hin gibt es etwas Armierung, da die Mauer dort dünner ist. Aber ja, es ist ein imposantes Bauwerk. Die blosse Masse ist beeindruckend, und das aus gutem Grund: das Gewicht des Betons muss grösser sein als der Wasserdruck im See, der auf die Mauer wirkt.

Die neue Staumauer ist im Bau. Erschwert das ihre Arbeit?
Die alte Mauer besteht seit fast 100 Jahren und ist sanierungsbedürftig. Nun hat man sich für einen Neubau entschieden. Der Clou dabei: Der Neubau wird vor die alte Mauer gesetzt, was den Vorteil hat, dass der See nicht abgelassen werden muss und die Stromproduktion während der Bauarbeiten weitergehen kann. Die alte Mauer wird stillgelegt und geflutet. 2025 soll die neue Mauer fertiggestellt sein und wir beziehen damit eine neue Arbeitsstätte. Zum Teil sind wir bereits in der neuen tätig. Die neue Mauer bereichert unsere Arbeit, erschweren tut sie den Job nicht.

Was bedeutet die neue Mauer für Sie persönlich?
Hach, die Sperren sind fast so etwas wie meine Babys, die ich täglich betreuen darf! Sie sind echt eine Herzensangelegenheit.

Werden Sie mehr Talsperrenwärter anstellen?
Wir bleiben das Team wie zuvor. Für die neue Instrumentierung benötigen wir zwar neue Anweisungen, aber wir integrieren diese bereits in unsere tägliche Arbeit an den bereits erstellten Teilen der neuen Mauer. Neu sind natürlich die digitalen Möglichkeiten der Messinstrumente, die uns ermöglichen, kontinuierlich Messungen durchzuführen. Die Handmessungen bleiben natürlich weiterhin ergänzend bestehen, um die digitalen Messungen zu bestätigen.

Beton nimmt durch die Wasserkraft für die Nutzung erneuerbarer Energien einen grossen Stellenwert ein. Sehen Sie Konkurrenz?
Die Wasserkraft hat nach wie vor keine Konkurrenz. Obwohl Wind- und die Solarkraft sinnvolle und nachhaltige Alternativen sind, bleibt die Wasserkraft das wichtige Standbein für die Energieversorgung in der Schweiz. Seit gut 100 Jahren können Unmengen an Energie produziert werden. Zwar entstehen Emissionen beim Bau, aber danach kaum mehr. Zudem gefallen mir die Talsperren auch als Bauwerke. Und ein Stausee ist ebenfalls schön anzusehen. Klar, ich habe zuhause auch Solarzellen auf dem Dach. Nachhaltige Energiegewinnung finde ich sehr sinnvoll. Man muss nur überlegen, wo welche Technologie an welchen Orten am sinnvollsten ist.
 

Kreislaufwirtschaft ist ein grosses Thema. Was meinen Sie, hätte man die alte Staumauer als Recyclingbeton nutzen können?
Ich bin kein Betonfachmann. Der Abbruch der alten Mauer hätte aber einen längeren Leerstand des Grimselsees bedeutet. In dieser Zeit hätte keine erneuerbare Energie produziert werden können. Ausserdem verursachen der Abriss, das Rezyklieren und der Abtransport des Betons auch Emissionen. Der Beton der neuen Mauer wird übrigens aus dem Aushub für die neue Mauer und aus einer alten Deponie an der Grimsel hergestellt. Das Gestein wird lokal zu Kies verarbeitet und vor Ort mit den angelieferten Zusätzen zu Beton verarbeitet. Und schliesslich könnte man die neue Mauer noch ein paar Meter aufstocken. Aber das ist Sache der Politik, das läuft ja bereits. Wir freuen uns einfach, dass wir auch in Zukunft hier im Grimselgebiet zur Energieversorgung beitragen können.

Wie wohnen Sie selber? Holz, Stein, Beton?
In einem Holzhaus. Als gelernter Zimmermann bleibt Holz für mich wichtig.

Gibt es denkwürdige Anekdoten, die Ihnen im Zusammenhang mit der Staumauer in Erinnerung geblieben sind?
An sich nicht. Vieles ist halt Routine. Dennoch können die Kontrollgänge schon etwas labyrinthisch sein. Einmal hat jemand versehentlich den Hauptlichtschalter betätigt. Dann ist es natürlich stockdunkel und es gibt praktisch keine Lichtschalter. Wenn man dann mit seiner kleinen Taschenlampe den gut zwei Kilometer langen Weg nach draussen finden muss, kommt man sich schon etwas wie ein Pyramidenforscher vor.


Lieber Herr Roth, besten Dank für das Interview!
 

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