Beton-People, Interview
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In Balance mit Beton

Balance auf Beton-Brüstung? Zirkus auf Ziegelsteinen? Hochleistungs-Sport in der Hochhaus-Siedlung

In Balance mit Beton

Was ausschaut, als würde ein Mensch sich wie ein Gummiball durch eine Betonlandschaft mit Wänden, Stufen, Schächten, Geländer, Treppen und über andere Elemente der urbanen Spielwiese bouncen, ist seit gut 20 Jahren als Parkour bekannt. Unter anderem auch dank der waghalsigen Zu-Fuss-Verfolgungsjagd im James Bond-Film «Casino Royale» mit Sébastien Foucan ist das Thema auch einem breiteren Publikum bekannt geworden. Wer Parkour-Athleten erblickt, ist begeistert. Die Mischung aus Film-Stunts, Zirkusakrobatik, Ninja-Kampfbahn-Action, Breakdance und Extrem-Sport bringt Passantinnen und Passanten zum Staunen. Sie verwandeln das als oft verpönte, zugebaute Siedlungsgebiet in ein Paradies für Parkour.

Saut de Bras, Saut de Chat, Passe Muraille oder Roulade werden die Moves und Sprünge der Parkour-Athleten genannt. Man nennt die überfliegenden Akteure der spektakulären Fortbewegung auch Traceurs. Sie legen ihre Spur gekonnt über alles, was für Normalsterbliche unüberwindbar erscheint. Die Sprache von Parkour ist Französisch. Denn für einmal ist eine neue Sportart nicht in Übersee entstanden, sondern hat ihren Ursprung in Frankreich. Wobei Sportart dem vielleicht nicht ganz gerecht wird. Vielmehr ist es Lifestyle und Haltung, die Parkour zu mehr macht, als möglichst schnell von A nach B zu kommen. Parkour macht sich die als zugebauten verschrienen urbanen Räume zum eigentlichen Paradiesgarten mit ungeahnten Möglichkeiten. Wer sich einmal ein paar Clips auf YouTube anschaut, kann verstehen, warum Parkour süchtig machen kann.

Als Wegbereiter der urbanen Sportart gilt David Belle. Der Franzose wurde von seinem Vater inspiriert. Dieser hat in Waldläufen die «Méthode Naturelle» trainiert und weiterentwickelt. So wird die Kunst der mühelos scheinenden Bewegung über Hindernisse in der Natur genannt. David hat das dann Ende der 80er Jahre in die Siedlungsgebiete der Pariser Vorstadt übertragen. Manche haben Parkour auch schon als kampfsportliche Fluchtdisziplin beschrieben. Klar ist, dass die neue Sportart vielen Jugendlichen aus den Banlieues erlaubt hat, aus dem Alltag zu flüchten und die Wohnungsbaulandschaften als neu interpretierten Spielplatz zu erobern. Vermutlich trägt auch dieser friendly Takover des städtischen Lebensraums dazu bei, dass dieser Sport so beliebt macht.

In der Schweiz und Deutschland ist mit ParkourONE eine Gruppierung mit eigener Academy entstanden. Gute Ausbildung ist auch nötig, um seine Skills zu entwickeln. Inzwischen gibt es verschiedene Übungsparkours, an denen man so lange üben kann, bis der Sprung von Dach zu Dach oder von Mauer zu Geländer auch wirklich sitzt.

Wir haben uns auf ein Betongeländer gesetzt und konnten Roger Widmer, einem der Pioniere und dem Inhaber und Gründer von ParkourONE, einige Fragen stellen.
 

Roger Widmer, Inhaber und Gründer von ParkourONE
Roger Widmer, Inhaber und Gründer von ParkourONE

Hallo Roger. Oder wie begrüsst man sich in der Parkour Community?
Salü. Also am einfachsten mit Tschou Röschu. Aber untereinander bei ParkourOne geben wir uns die Hand. Und zwar so, dass jeweils der Zeigefinger nach oben zeigt. Das bedeutet gleichzeitig «Hallo!» und «Are you ready?» Es gibt aber noch einen anderen Handshake, der sich durchgesetzt hat. Die Yamakasi, die als Gruppe in den 1990-er Jahren als Wegbereiter des Parkours entstanden sind, begrüssen sich, in dem sie sich gegenseitig um den Unterarm fassen. So als würde man sich hochziehen.

Im Artikel steht, Parkour sei mehr als bloss Sport. Wie siehst du das?
Für mich ist es definitiv mehr als ein Sport. Parkour ist eine Lebensschule. Als ich zu Parkour gefunden habe, deckte das alle Bedürfnisse ab, die mir wichtig waren. Parkour basiert auf Werten und schult Kompetenzen, die man ein Leben lang brauchen kann. Zum Beispiel, dass es immer einen Weg gibt. Oder dass Solidarität wichtig ist. Du lehrst Entscheidungsfreudigkeit, Selbsteinschätzung und den Umgang mit Herausforderungen, Risiko und Angst. Schön ist auch, dass du mit dem was Du hast, so viel erleben kannst. du brauchst kein teures BMX-Bike, keinen Skatepark oder sonst was. Nur du und deine Umgebung. C'est ça. Du arbeitest an dir und bekommst viel Motivation, als Mensch zu wachsen. du weisst, wie man Lösungen findet.

Wie ist Parkour in die Schweiz gekommen?
Ich hatte Anfang 2000 eine kurze Einspielung auf dem TV-Sender Arte gesehen. Man sah, wie David (Belle) über ein Geländer springt. Das hat mich sofort angesteckt und ich wusste: Das ist es. Das will ich tun. Es sah so leicht und elegant aus. Wie schwer ist es tatsächlich? Ich begann mit meinen Freunden Ramon und Felix mit den ersten Sprüngen in Münsingen, meinem Heimatort. Wir gründeten erst die Gruppe PkM (Parkour Münsingen), später ParkourONE Schweiz und mit Steven Käser, ebenfalls ein Schweizer Parkour-Pionier, haben ich wir dann mit den damaligen deutschen Schlüsselpersonen ParkourONE gegründet.

2005 sind wir erstmals extra nach Lisses, einem Vorort von Paris, gereist, um David Belle kennenzulernen. Alle waren sehr offen und motivierend. Im Jahr 2006 eröffneten wir in Münsingen das erste, regelmässige Training weltweit. Im Jahr 2007 erschien ein Video von Madonna und eben der Auftritt von Sébastien Foucan in James Bond. Das gab dann grosses Medien-Echo und ab diesem Zeitpunkt stiess Parkour überall auf Interesse. Wir durchliefen einen Medien-Marathon und dieser ermöglichte uns, aus Hobby Beruf zu machen.

Ihr trainiert offenbar viel und bereitet jeden Move genau vor. Geht Ihr auch spontan los und schaut, wo Ihr landet?
Ja und nein. Alles beginnt letztlich bei der Vorbereitung und dem Training, welches ganzheitlich angelegt ist. Dabei ist Repetition der Schlüssel. Man trainiert Schritt für Schritt, Hand in Hand. Irgendwann ist das Hüpfen von Stange zu Stange wie Treppenlaufen. Wichtig ist uns auch der bewusste Umgang mit Risiko. Das Leben ist Risiko. Und das Leben mit Risiko ist immer auch Kompetenzförderung. Ich mache keinen Sprung, ohne mir den Konsequenzen bewusst zu sein. Dann kann ich immer noch entscheiden, ob den Sprung wage, falls das Risiko über meinem Niveau iliegt. Mit der Erfahrung kommt die Leichtigkeit, dann fliessts und dann ist's das Beste, was es gibt. Toll ist auch, dass keinen Gegner gibt, keine Fouls, sondern ein konstruktives Miteinander.

Kommen wir zum Thema Material. Ihr tragt oft Baggy Pants – eine in der Parkour-Szene beliebte weit geschnittene Hosen. Bleibt man da nicht hängen?
Nein, sonst würden wir das nicht anziehen. Baggies sind einfach die Hosen, die sich am besten eignen. Und man erkannte sich am Baggy-Pants-Stil. Wir haben sogar ein eigenes Fashion-Label, Être-Fort. Der Begriff kommt vom Motto «Être fort pour être util». Stark sein um nützlich zu sein – in Sinne von anderen besser helfen zu können. Das ist das Parkour-Grundmotto, wenn man so will.

Gibt es eine Empfehlung für Schuhe?
Jeder bequeme Sneaker mit Grip (Griffigkeit). No Grip, no good. Zu viel Dämpfung ist auch nicht gut. Am besten funktionieren schnörkellose Retro-Schuhe, wie der Adidas Samba oder der Reebock classic. Lange war auch ein supercheaper Schuh von Decathlon der Renner. Bei uns geht es nicht darum, wer den teuersten Sneaker trägt.

Wie sieht es aus mit Baumaterial. Was magst du am liebsten? Beton, Ziegel, Sandstein, Holz?
Beton ist ein grosser gemeinsamer Nenner. Du kennst die Oberflächen, die Art der Verwitterung. Beton ist roh, direkt, ästhetisch. Das feiern wir geradezu ab. Wenn ich Beton sehe, weiss ich sofort, wie er sich anfühlt und ob es «hebt» oder nicht. Metall mag ich auch, kann ich ziemlich gut lesen. Was ich gar nicht mag, sind die Pseudowände, die hinter dem Verputz hohl sind und die so tun, als wären sie solide. Aber auf Beton ist Verlass. Beton verzeiht aber auch nicht. Das merkt das Schienbein ziemlich schnell. Geschliffen mag ich ihn auch nicht besonders - kein Grip! Das sind genau die Attribute, die ich auch bei einem Menschen schätze. Ein ehrliches Gegenüber.

Was denkst du, wenn du den Begriff «Beton» und «zugebaute» Räume hörst?
Möglichkeiten! Umgestaltung! Leere Leinwand! Da gibt es neue Chancen, tolle Begegnungen. Da steckt Bewegung und Kultur drin. Hier kann ich mich einbringen. Mir gefallen die urbanen Betonlandschaften sehr. Wir leben selbst in einer Bauhaus-Siedlung mit viel Sichtbeton.

Deine Lieblingsstrecke?
Spots! Wir bezeichnen die Orte, an denen wir trainieren, gerne als Spots. Weil wir keine kilometerlangen Strecken abrattern, sondern mehr zwei, drei aneinanderhängende Techniken koppeln. So entstehen je nach Technik am selben Ort immer wieder neue Spielarten.

Und Lieblingsspots gibt es viele. Unser Büro gehört dazu. Dann das Schulhaus Münsingen, wo für uns alles seinen Anfang nahm.

Oh, und dann natürlich La Muralla Roja. Das ist diese verrückte rote Siedlung von Ricardo Bofill im Spanischen Calpe aus den 70igern. Das sieht aus wie ein riesiges Parkour-Disneyland. Grossartig. Eigentlich alle Bauten von Bofill würden mich extrem reizen. Von ihm gibt es auch diese alte Zementfabrik bei Barcelona, die er umgebaut hat. Ein Traum! Bofill ist vermutlich ein Traceur ohne es zu wissen!

Ich bin ein grosser Architekturfan. Aber es muss ja nicht immer ein Bau sein. Bei Fontainbelau südlich von Paris gibt es diesen Zauberwald voller mythisch anmutenden Sandsteinblöcken. Man sagt, dass dort das Bouldern entstanden ist. Der Wald ist vor allem in der Boulder-Szene sehr beliebt. Wir haben unser jährliches ParkourONE Gathering dort, ein Parkourfestival mit unseren Schülerinnen und Schülern und Freunden aus aller Welt. Es ist zauberhaft und riesig!

Was macht Parkour so viel besser als jede andere Sportart?
Besser ist natürlich relativ. Wir mögen, dass Parkour nicht kompetitiv ist. Es geht nicht darum, wer mehr Tore schiesst oder Punkte macht. Parkour ist multidimensionales Lernen. Es ist physisch, psychisch, emotional, sozial und sensorisch am dauerwirken. Da gehören Lebensschule, Charakterbildung und sportlich gesehen Bouldern, Weitsprung, Hochsprung, Akrobatik und vieles mehr dazu.

Die Verletzungsgefahr ist sicher grösser, als beim Jassen. Hast Du schon Gröberes erlebt?
Eigentlich nicht. Ich hatte mal einen Bänderriss. Aber Parkour ist nichts im Vergleich mit Skifahren, Biken oder Skaten. Logo, absolute Sicherheit gibt es nicht. Man muss wie gesagt lernen, mit Risiko umzugehen. Man muss über Grenzen gehen, damit man die Grenze überhaupt sieht. Und je kompetitiver man unterwegs ist, desto eher gibt das mal eine Prellung oder das Schienbein jault. Aber unsere Unfallstatistik in den Trainings von ParkourONE ist übrigens etwa gleich wie die von Nordic Walking.

Wie sieht es mit der Polizei aus. Habt Ihr auch schon Bussen bekommen?
Wir hatten noch nie wirklich Probleme. Im Gegenteil. Seit 15 Jahren arbeiten wir mit der Polizei zusammen und gehören bei gewissen Polizeikorps sogar zur Grundausbildung. Wir arbeiten mit verschiedenen Sportämtern zusammen. Generell sind wir respektvoll unterwegs. Wir wollen unsere Umwelt erhalten. Wenn mal ein Hausmeister reklamiert, dann gehen wir hin und geben die Hand. Wir respektieren die Privatsphäre. Es gibt z.B. Parkourverbote in London. Aber in der Schweiz eher nicht. Privatsphäre wird respektiert. Littering ist ein no-go. «Leave no trace» ist unser Motto. Wir beteiligen uns auch an den Clean-up Days, an denen Abfälle aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Wir haben auch schon Wände neu gestrichen, die durch unsere Aktivitäten etwas speckig wurden. Im Grossen und Ganzen verstehen wir uns als unterstützende Community.

Welche Programme oder Initiativen gibt es, um junge Menschen für Parkour zu begeistern?
Wir sind per DNA eine Wertekultur und haben entsprechend Werte basierend auf Respekt definiert. Wir sind nota bene wohl die grösste Parkour-Schule der Welt und engagieren uns stark für die Jugend. Auch in Deutschland sind wir tätigt und haben derzeit sechs Schulen. Nicht alle finden uns cool, nicht zuletzt weil wir gross und vielleicht nicht mehr die Jüngsten sind. Neue wollen sich emanzipieren. Und sollen das auch tun. Das ist alles super. Wir begrüssen das und geben Wissen gerne weiter.

Gibt es spezielle Trainingsangebote für Kinder und Jugendliche?
Grundsätzlich wollen wir Jugendliche und Erwachsene zusammen unterrichten. Das Teilen von Lebenserfahrung, egal vom Alter, ist wichtig und kommt super an. Dann gibt es Kurse für 3 bis 6 Jahre alte Knirpse, für Kids von 6 bis 12, dann 12+ und 18+. Und wir heissen auch 60+ willkommen. Wir sind offen für alle.

Dein Tipp für Anfänger?
Achtung Schleichwerbung: Unbedingt eine Probelektion besuchen! Dann Freude an kleinen Schritten entwickeln. Ins Handeln kommen. Tun! Keine Angst vor Fehlern und vorm Scheitern haben. Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit!
 

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