Beton-People, Interview
8 Min.

Rennbahn Oerlikon, Stehaufmännchen dank Beton.

Seit 111 Jahren zieht das Renn-Oval in Zürich Oerlikon Freundinnen und Freunde des Bahnradsports in seinen Bann. Was 1912 nach nur fünfmonatiger Bauzeit auf der grünen Wiese in Zürich-Nord eröffnet wurde, hat sich als ausdauernder Langstreckensportler entpuppt. Hier lebt Radsportkultur und Architektur auf, geht durch Hochs wie Tiefs und stemmt sich erfolgreich gegen Abrissgelüste.

Rennbahn Oerlikon, Stehaufmännchen dank Beton.

Die älteste Sportstätte der Schweiz bleibt aktuell

Die offene Rennbahn Oerlikon gilt als älteste Sportstätte der Schweiz, die unverändert genutzt wird. Bereits 1912 wurde das Betonrund auf eine hohe Belastung ausgerichtet, sodass auch Steherrennen durchgeführt werden konnten. Es gab damals nur sehr wenige Bauten in Sichtbeton, warum die Rennbahn als wegweisendes Beispiel im Betonbau galt. Gut 100 Jahre später wurde eine Sanierung beschlossen, damit der Rennbetrieb bis mindestens 2030 aufrechterhalten werden kann. Es wurden die Betonelemente der Piste ertüchtigt, die Tribüne Nord erneuert, die Küche im Tribünengebäude saniert sowie Brandschutz, Fluchtwege und Wegbeleuchtung auf den neusten Stand gebracht.

Hauptkonkurrentin Hallenstadion

Die Blütezeit erlebte die offene Rennbahn in den 1930er-Jahren. Danach entstand mit der Eröffnung des Hallenstadions Konkurrenz. Denn die offene Rennbahn ist sehr wetterabhängig. Etwas Regen reicht und die 45° steilen Kurven verwandeln sich in Rutschbahnen. Mit der gedeckten Holzbahn hat das Hallenstadion der offenen Bahn den Rang abgelaufen. Es wurden in der Folge immer wieder Forderungen nach Abriss und Areal-Umnutzung laut. Bis das Hallenstadion 2005 komplett saniert und die permanente Radrennbahn nicht mehr ersetzt wurde.

Renaissance und neues Momentum

In den 00er Jahren formierten sich ein paar Radsportfans zur Interessengemeinschaft «Offene Rennbahn Oerlikon» mit dem Ziel, das inzwischen denkmalgeschützte Bauwerk zu betreiben und zu pflegen. In der Folge wurden wieder vermehrt die beliebten Abendrennen organisiert. Dabei feierten Disziplinen wie Derny, Keirin, Madison oder eben Steher wieder einen zweiten Frühling, so wie die Betonpiste, die für dieses Spektakel unerlässlich ist.

In unserer Serie über spannende Persönlichkeiten, die mit Beton zu tun haben, sind wir auf die Bahn-Schrittmacherin Nicole Fry gestossen. Fry ist neu zum Stehersport gestossen und steht nun in den Startlöchern, um an ihrem ersten Rennen als Schrittmacherin teilzunehmen. Sie hat über die Rennbahn und den Stehersport Interessantes zu berichten. Auch mit dem Material, aus dem die Piste gebaut ist, kennt sie sich von Berufs wegen aus.

Galerie: Rennbahn Oerlikon
Galerie: Rennbahn Oerlikon
Galerie: Rennbahn Oerlikon
Fiat-Werk Lingotto (©FELIXSCHWARZ at made-by-architects.com)
Fiat-Werk Lingotto (©FELIXSCHWARZ at made-by-architects.com)

Liebe Nicole Fry, Sie stehen vor Ihrer Premiere als Stehermotorradfahrerin in der offenen Rennbahn Oerlikon.

Welchen Bezug haben Sie zum Beton-Oval in Zürich Nord? Was gefällt Ihnen speziell?
Die offene Rennbahn liegt in der Nähe unseres Hauses. Im Sommer sind wir oft mit den Kindern die Rennen schauen gegangen. Uns hat das ganze Setting immer sehr gefallen. Die Architektur der Bahn. Dieses Eintauchen in eine spezielle Welt. Das Publikum, der Bahnsport, alles unter freiem Himmel, das ist einzigartig. Die Bahn ist wie eine Art UFO, das hier in Oerlikon gelandet ist, einfach faszinierend. In diesem Sinne herunterfahrend ist auch der Besuch. Man landet in einer anderen Welt, oft «aus der Zeit gefallen» beschrieben, die ihre eigene Bahn zeichnet. Man trifft auf eine eingeschworene Gruppe Menschen, die sich auf den zwei Terrassen einfinden, um sich an diesen tollen Radsportdisziplinen zu erfreuen. Auf der einen Seite sitzen die Familien und eher «neueren Fans» in lockerer Atmosphäre. Auf der anderen Seite sitzen zum grösseren Teil die Traditionalisten. Das vermischt sich auch gut. Es gibt ja keine Fanlager, wie im Fussball. Man ist geeint durch dieses spezielle Offene-Rennbahn-Oerlikon-Feeling.

Wie sind Sie zum Stehersport gekommen?
Eigentlich bin ich keine Velofahrerin. Ich fahre Motorrad, eine 125er, aber auch das nicht superambitioniert. Wenn aber die Stehergespanne in der Bahn kreisten, hat mich das magisch angezogen. Man ist wie hypnotisiert und lässt sich vom Sound und den durchs Rund kreisenden Gespannen in einen fast süchtig machenden Sog hineinziehen. Das hat mich irgendwann so richtig gepackt und den Ehrgeiz und die Neugierde geweckt. Dann ist einer unserer Nachbarn freiwilliger Helfer der offenen Rennbahn Oerlikon. Mit ihm habe ich immer wieder über die Bahn und die Steherrennen diskutiert und mein Interesse bekundet, selber als Schrittmacherin mitzufahren. Sein neckisches «Sie suchen übrigens noch» hat mich letztlich dazu bewogen, die Sache anzugehen.

Brauchen Sie zum Fahren der Motorräder eine Prüfung?
Ja. Man muss eine Schrittmacherprüfung absolvieren. Auch Steher müssen eine Prüfung ablegen. Und danach muss man eine Lizenz lösen. Aber Fahrstunden im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Auch ein Theorieheft existiert nicht. Ich bin von einem erfahrenen Schrittmacher angelernt worden. Der hat mir alles beigebracht. Die Prüfung wurde dann von Swiss Cycling abgenommen.

Was ist der Unterschied zu einem herkömmlichen Motorrad?
Natürlich, dass man steht und nicht sitzt, man will ja für möglichst guten Windschatten sorgen. Für den sicheren Stand gibt es fest montierte Schalen, die den Beinen Halt geben. Schalten und Kuppeln funktioniert wie auf der Strasse. Speziell ist auch der Lenker, der fast parallel zum Motorrad nach hinten ragt. Damit kann man keine engen Radien lenken. Beim Manövrieren im Innenfeld muss man sogar hinten auf die Fussrasten stehen, damit man den Lenker so weit bewegen kann, damit man überhaupt «reinkommt». Nur schon das will gelernt sein. Dann ist der Griff am Gas umgekehrt. Man gibt nach aussen hin Gas, weil das wegen der Handposition einfacher ist. Der Gasgriff ist ganz fein gerastert, damit man sich behutsam durch die Geschwindigkeiten «klicken» kann. Bremsen sind vorhanden, man bremst aber nicht, es ist sogar verboten! Grundsätzlich muss man sich mit dem Steher in einen steten Flow begeben. Der Helm ist auch speziell. Er verfügt über Ohrlöcher mit rückwärtsgerichteten Schalen, damit man seinen Steher von hinten auch hören kann. Auch der Lederkombi ist nicht strassentauglich. Er ist extra voluminös geschnitten, damit man möglichst optimal Windschatten spenden kann.

Was für eine Schrittmachermaschine fahren Sie?
Ursprünglich eine Yamaha 850 aus den 90er-Jahren. Den Umbau macht die Garage Küng in Nänikon. Die Motorräder müssen alle baugleich sein, mit gleicher Leistung. Es nämlich so, dass die Bahn die Motorräder vorgibt. Würde ich im Ausland fahren, müsste ich auf die dortigen Motorräder wechseln.

Wie wäre es, einen Bergpass mit einem Stehermotorrad zu fahren?
Vom reinen Fahrgefühl her wäre das vielleicht was. Aber funktionieren würde das nicht. Wie gesagt, kann man nicht wirklich lenken. Und zum Schalten müsste man immer aus den Fussrasten nach vorne zum Fussschalthebel hoppeln. In der Bahn schaltet man in den höchsten Gang, platziert die Füsse in den Fussrasten und bleibt dann im selben Gang.

Steherrennen sind Teamwork pur. Wie findet man den passenden Velopart? Und wechselt man den ab oder bleiben man ein fixes Team?
Zum Beispiel fahren Luginbühl/Atzeni als Gespann schon lange und sind super eingeschworen. Man kann seinen Partner schon wechseln, aber bessere Chancen hat man als eingespieltes Team. Jemanden zu finden, war für mich nicht einfach. Meinen Partner Steve Sommerfeld, ein erfahrener Bahnfahrer, aber ebenfalls ein Neueinsteiger als Steher, habe ich übrigens ganz neuzeitlich via Instagram gefunden.

Sie kommunizieren mit dem Radpart mit «Allez» und «Ho». Mehr braucht es nicht?
Im Prinzip nicht, nein. Man versucht, mit wenig Kommandos auszukommen. Go with the Flow ist zentral.

Wie verständigen Sie sich mit den anderen Motorradschrittmachern im Rund?
Eigentlich gar nicht. Man merkt sofort, wenn jemand schneller oder langsamer ist. Überholt wird dann oben. Und wenn drei parallel fahren heisst es für die hinteren warten, bis wieder Platz frei ist.

Sind die Velos auch speziell für den Stehersport designt?
Ja. Das Vorderrad ist viel kleiner. Und die Gabel ist wie verkehrt montiert, zeigt nach hinten. So kommt der Steher näher und besser an die Rolle. Der Lenkergriff ist anders gewickelt. Man stützt mehr auf und zieht weniger. Dann sind Sattel und Lenker mit kleinen Stangen gestützt. Es sind immer Massanfertigungen, die auf die jeweilige Fahrergeometrie angepasst sind.

Wie lange dauert ein Rennen? Der Begriff Steher leitet sich ja aus dem englischen Wort «stay» ab, im Sinne von dranbleiben, ausdauernd.
Es gibt Rennen auf Zeit oder auf Distanz. In Oerlikon fahren wir 20 bis 25 Kilometer. Das ergibt Zeiten im Bereich von ca. 20 Minuten.

Gibt es einen magischen Moment, in dem alles passt?
Dieser Flow, in dem alles passt, ist magisch. Je besser man die Linie fährt und je besser die Pace stimmt, desto besser ist das Zusammenspiel. Dieses Gefühl ist dann wie fliegen.

Welche sportlichen Ziele verfolgen Sie? Dass Steherrennen olympisch werden und Sie die Goldmedaille holen?
Olympisch kaum. Aber es gibt eine SM und eine EM. Mindestens eine Teilnahme muss Ziel sein. Aber mein Ziel ist der Start Ende Juni in Oerlikon und dann die ganze Saison erfolgreich zu bestehen. Ich möchte mich etablieren, mich technisch verbessern. Und Spass haben natürlich.

Gibt es typische Redewendungen aus dem Stehersport?
Ja! «Der ist voll von der Rolle!» – Mit diesem Satz werden Personen beschrieben, die aufgewühlt, kopflos oder ausgelaugt sind. Der Ausspruch «von der Rolle sein» stammt von den Steherrennen. Hinten am Motorrad ist an einem Gestell eine Rolle befestigt, die verhindern soll, dass der Radfahrer die vorausfahrende Maschine berührt und gleichzeitig den idealen Windschatten nutzt. Ist er von der Rolle, steht er im Gegenwind.
 

Fahren Sie auch auf Holzbahnen in Hallen?
Nein. Ich bin durch und durch Beton! Aber was nicht ist, kann gerne noch werden.

Die offene Rennbahn musste sich über die Jahre immer wieder vor Abriss wehren. So auch der Stehersport. Wie sehen Sie die Zukunft?
Unser Sport bleibt eine Nische. Aber wir öffnen diese Nische immer mehr, pflegen den Sport, bewahren ihn und machen ihn zugänglich. Vielleicht begeistern sich mehr Frauen.

Wird man dereinst auf Elektro-Motorräder umsatteln?
Das Thema kommt immer wieder auf. Die Maschinen haben sich ja über die letzten 100 Jahre immer weiterentwickelt. Wir fahren ja nicht mit den Kisten von 1930. Kann sein, dass irgendwann auf E-Schrittmacher umgesattelt wird. Da bin ich offen. Ob das diesen Sound je wird ersetzen können?

Was zeichnet einen guten Steher aus?
Teamwork. Feingefühl. Physische Eigenschaften wie Ausdauer, Kraft und Technik. Und für mich natürlich Kollegialität.

Und was macht eine gute Schrittmacherin oder einen guten Schrittmacher aus?
Ebenfalls Teamwork. Aber mehr noch Feingefühl, damit der Flow stimmt. Man kann ja nicht einfach zack-bumm den Gashebel voll aufreissen. Menschliches ist aber für mich genauso wichtig. Es soll Spass machen, man soll lachen wollen und sollen. Ehrgeiz ist gut, Verbissenheit ist nicht meins. Dann ist Körpergefühl, vor allem für mich, wichtig, weil ich klein und leicht bin. Ich muss vielleicht noch mehr Ruhe und Sicherheit ausstrahlen, als andere. Erfahrung ist immer gut, die wird bei mir immer mehr!

Wenn Sie nicht Steherrennen fahren, arbeiten Sie mit Ihrem Partner in Ihrem Unternehmen für Farbgestaltung. Dabei kommen Sie auch oft mit Beton in Kontakt. Ist Beton eine Art Leinwand für Sie?
Beton hat schon in sich viel Ausstrahlung und Charakter. Bei uns geht es darum, den Charakter eines Gebäudes bzw. einer Betonfläche herauszuschaffen. Nur weil zum Beispiel eine grossflächige Betonwand Leinwandcharakter vermuten liesse, heisst das nicht, dass man sie bunt und knallig bepinseln soll. Darum Leinwand eher nein.
 

Was halten Sie vom Baustoff Beton generell?
Das hört sich jetzt wie sponsored Content an, aber ich habe ihn persönlich sehr gerne. Viele sagen, Beton sei kalt. Das finde ich nicht. Beton bietet wie kein anderes Material skulpturale Möglichkeiten. Die Rennbahn ist ein schönes Beispiel dafür. Dann gefällt mir Beton besonders, wenn er alt wird und Patina ansetzt, ja, buchstäblich mit der Zeit geht. Die Spuren der Zeit wirken halt sehr charmant. Aber das gilt ja für vieles – sogar für Sportarten!

Wenn sie die offene Rennbahn mit einem Farbkonzept versehen könnten, wie würde das aussehen?
Oh, das wäre eine schöne Aufgabe! Wenn man in die Bahn kommt, ist das wie ein Zeitsprung. Dieses Rund ist ja alles andere als bunt. Reduziert, schnörkellos, perfekt. Das würde ich nur sanft mit kontrastierenden, glänzenden Oberflächen wie zum Beispiel bei Mobiliar oder Holzelementen ergänzen und mit etwas Farbe für sanfte Orientierung sorgen. Das schlichte Wesen der Bahn darf dabei nicht konkurriert werden. Und nichts soll vom Rennbetrieb ablenken, denn um den geht es ja letztlich!

Welches ist Ihr Lieblingsgebäude ganz generell?
Schwierige Frage! Da gibt es viele. Aber zum Interview passt das Fiatwerk «Lingotto» in Turin ganz gut. Ich war da letzten Winter um Neujahr, wusste nicht, ob ich mit dem Steherprojekt weitermachen soll oder nicht. Die Fabrik hat ja eine Betonbahn auf dem Dach. Darunter wurden die Autos gebaut, Stockwerk für Stockwerk und zum Schluss ganz oben getestet. Der Bau ist eine Maschine für sich. Sehr spannend und imposant. Schon wenn man den Po entlangspaziert und das Gebäude erblickt, wird man davon eingenommen. Wer weiss, vielleicht hat mich der «Lingotto» sogar in der Bahn gehalten.
 

Liebe Nicole Fry, besten Dank für dieses Gespräch und viel Erfolg!
 

Nicole Fry ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrem Partner in Zürich Oerlikon. Zusammen führen sie eine Agentur für Farbgestaltung.
Nicole Fry ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrem Partner in Zürich Oerlikon. Zusammen führen sie eine Agentur für Farbgestaltung.

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